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Tomas Venclova: "Der magnetische Norden"
Ein Geist im permanenten Unruhezustand

In dem neunen Gesprächs- und Erinnerungsband "Der magnetische Norden" spricht Schriftsteller Tomas Venclova mit Dichterkollegin Ellen Hinsey über seine umtriebige Vergangenheit, über Freundschaft und über ein Land, über das im Westen nur wenig bekannt ist - sein Heimatland: Litauen.

Von Marta Kijowska | 21.11.2017
    Der litauische Schriftsteller Tomas Venclova
    Der litauische Schriftsteller Tomas Venclova (imago/gezett)
    Er finde es für sein Werk durchaus nützlich, in einem Abstand von der Heimat zu leben, seinen Schreibtisch möglichst weit weg von ihr stehen zu haben, sagt Tomas Venclova über sich. Und in der Tat scheint er in der Fremde weder sein dichterisches Talent, noch jene Neugier auf Orte, Menschen und Ereignisse verloren zu haben, die schon immer sein auffälliger Charakterzug war – und die seine dreiteiligen Erinnerungen, in denen er parallel persönliche und historische Erfahrungen erzählt, zu einer faszinierenden Lektüre macht.
    Besonders ausführlich berichtet er über seine Kindheit und Jugend, die Jahre also, in denen er und seine Familie, ähnlich wie die ganze litauische Gesellschaft, auffallend viele politische und kulturelle Brüche erlebten mussten. Allein der Zweite Weltkrieg, der zwei Jahre nach seiner Geburt ausbrach, bedeutete für Litauen drei Okkupationsperioden – erst durch die Sowjets, die das Land infolge des Hitler-Stalin-Paktes annektierten, dann durch die Nazis und schließlich wieder durch die Sowjets. Die Deutschen verwüsteten das Land und vernichteten fast die gesamte jüdische Bevölkerung, die Russen deportierten über 300 000 Litauer nach Sibirien. Vor allem diese Deportationen, die im Juni 1941 stattfanden, seien, so Venclova, ein kollektives Trauma, das bis zum heutigen Tag nicht verarbeitet sei und dem ein Missverständnis zugrunde liege.
    "Litauer hängen noch immer dem Irrglauben an, nur ethnische Litauer seien betroffen gewesen. Sie glauben auch, die Sowjets hätten die Litauer als ethnische Gruppe vernichten wollen, was glücklicherweise durch die deutsche Invasion verhindert worden sei. Viele Historiker und Journalisten kultivieren auch heute noch diesen Mythos durch Auslassungen und falsche Akzente. Tatsächlich hat Stalin in den baltischen Ländern einen "Stratozid", keinen "Genozid" verübt."
    "Klassenfeinde": Lehrer, Offiziere, Beamte oder Priester
    Damit meint der Dichter, Stalin sei es nicht um die gesamte litauische Bevölkerung, sondern um eine bestimmte soziale Schicht gegangen. Sein Ziel sei es gewesen, jene gebildeten Teile der Gesellschaft zu vernichten, die in seinen Augen als "Klassenfeinde" galten: Lehrer, Offiziere, Beamte oder Priester.
    Für Venclova selbst bedeutete der Krieg mehrere Umzüge, von Klaipéda nach Vilnius, dann nach Kaunas und wieder Vilnius – und ein traumatisches Erlebnis nach dem anderen. Etwa den Moment im Jahre 1941, in dem sein Vater, der ein hoher KP-Funktionär und unter der ersten sowjetischen Besatzung Bildungsminister war, vor den Deutschen nach Moskau fliehen musste und seine Mutter von den litauischen Nazi-Kollaborateuren verhaftet wurde. "Dieses Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit", wie er es formuliert, sollte er niemals vergessen. Erst als die Kriegszeit zu Ende war und die wiedervereinte Familie sich kurz danach in Vilnius niederließ, kehrte in sein Leben eine Stabilität ein. Zumindest im existentiellen Sinne, denn die Bildungsjahre, die nun folgten, versetzten seinen Geist in einen permanenten Unruhezustand.
    "Gegen Ende der Studienzeit bestanden meine philosophischen Anschauungen in einer naiven Mischung aus Kant, Wittgenstein und Camus. Ich glaubte die transzendentale Welt sei nicht zu erkennen und sollte besser nicht erörtert werden, weil dies nur zu Widersprüchen und in Sackgassen führte."
    Im Visier des litauischen Geheimdienstes
    Allerdings bildete das Jahr 1956, genauer die Niederschlagung des Aufstands in Ungarn, eine deutliche Zäsur im Falle seiner politischen Ansichten. Und dies hatte zur Folge, dass er sich vom Regime abwandte und von nun an fast nur noch im Untergrund publizierte – eine schwierige Situation sowohl für ihn als auch für seinen Vater, Atanas Venclova, der auch nach dem Krieg linientreu blieb und eine Zeitlang sogar dem Schriftstellerverband vorstand. Dennoch sei es ihnen gelungen, ein korrektes Verhältnis zu haben, zumal der Sohn längst ein eigenes Leben führte – mal in Leningrad, mal in Moskau, und überall umgeben von Intellektuellen, die auch zu den Dissidenten zählten und nicht selten berühmte Namen trugen: Joseph Brodsky, Anna Achmatowa, Boris Pasternak, Nadeschda Mandelstam oder Andrej Sacharow. Dass er dadurch ständig im Visier des Geheimdienstes stand, versteht sich wohl von selbst. Als er aber 1976 die litauische Helsinki-Gruppe für Menschenrechte mitgebründete, kam dies einer offenen Kriegserklärung an das Regime gleich, und dessen Gegenschlag ließ nicht lange auf sich warten: Ein Jahr später durfte Venclova zwar in die USA reisen, doch noch im selben Jahr wurde er ausbürgert. Von nun an war er ein Exildichter, der bald als die wichtigste Stimme Litauens galt, und arbeitete gleichzeitig an verschiedenen amerikanischen Hochschulen – vor allem an der Yale University, wo er slawische Sprachen und Literaturen unterrichtete.
    Sein politisches Engagement gab er dadurch nicht auf, im Gegenteil: Zusammen mit Czeslaw Milosz und Joseph Brodsky bildete er, so Ellen Hinsey, ein "poetisches Triumvirat", ein "solidarisches Trio der Kultur", das "im Geist der damaligen Dissidentenbewegung" agierte, etwa indem es – in New York Times und anderen bekannten Medien – eine Reihe gemeinsamer öffentlicher Erklärungen abgab.
    "Es war nur natürlich, dass ich mich ihnen als Dritter im Bunde anschloss, als Vertreter eines jüngeren Landes mit einer jüngeren Kultur. Bedenkt man die Konflikte Russlands, Polens und Litauens, die damals praktisch unlösbar schienen, so war es, glaube ich, ein bedeutsamer Schritt.
    Abstand von der Heimat als Bereicherung
    Als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach und Litauen wieder ein unabhängiges Land wurde, sah Venclova keinen Grund mehr, wieder dahinzuziehen. Stattdessen wurde er zu einem Weltbürger, der abwechselnd in Amerika und in Europa lebte, wobei er sich in letzterem Fall mal in Litauen, mal anderswo aufhielt. Dadurch bewahrte er sich jenen Perspektivwechsel, der ihm schon immer eine besonders genaue Beobachtung der Ereignisse ermöglichte. Denn so wie er früher das Sowjetsystem nacheinander als Sohn eines kommunistischen Funktionärs, als Dissident und als Emigrant erlebte, so konnte er nun das Geschehen im vereinten Europa aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten – und daraus neue Themen und Motive für sein Schreiben beziehen. Das meinte er auch mit der Äußerung, er würde in dem Abstand von der Heimat eine Bereicherung seines Werks sehen.
    "Es ist selten leicht, außerhalb des eigenes Landes zu leben: Doch das Exil erschafft einen magnetischen Punkt, zu dem man sich hingezogen fühlt wie die Kompassnadel zum Pol. Und zuletzt kann dieser magnetische Punkt zum eigenen werden."
    Wer Tomas Venclovas Dichtung kennt, der eine gewisse Lakonie und Strenge anhaftet, der wird über seine Erinnerungen staunen. Er ist zwar auch hier sehr präzise, gleichzeitig aber sehr ausführlich – manchmal etwas zu ausführlich. Das liegt teils an seiner Erzähllust, teils an den Fragen von Ellen Hinsey, die oft etwas zu allgemein formuliert sind oder zu stark ins Detail gehen. Da eine knappere Antwort, dort ein etwas spontanerer Wortwechsel würden also diesem Gespräch gewiss guttun.
    Ansonsten aber ist Der magnetische Norden ein sehr lesenswertes Buch, in dem Selbstauskünfte einer starken Schriftstellerpersönlichkeit und wertvolles Wissen über ein wenig bekanntes Land sich auf eine spannende Weise die Waage halten.