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Tor zum Lernen

Nirgendwo ist das Armutsrisiko in Deutschland so groß wie in Berlin. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung hat die Hauptstadt den höchsten Anteil von Bürgern, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Knapp zwanzig Prozent der Berliner sind von Transferleistungen wie Hartz IV abhängig. An verschiedenen Stellen hilft auch der Sport bei der Bewältigung von Problemen.

Von Ronny Blaschke | 16.10.2010
    Mit mächtigen Schritten treibt Björn Busch den Ball zum gegnerischen Tor. Für einen Moment sind seine Sorgen weit weg. Der 23-Jährige hatte seinen Ausbildungsplatz und seine Wohnung verloren. Er hat familiäre Probleme und Schulden in vierstelliger Höhe. Nun bezieht er Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV.

    Björn Busch dringt in den Strafraum ein, sein wuchtiger Schuss ist für den Torwart unhaltbar. Neben Busch laufen neun Jugendliche über den Bolzplatz in der Wuhlheide, einem Waldgebiet in Köpenick, im Südosten der Hauptstadt. Der Titel ihres Projekts? Sport ist das Tor zum Lernen. Busch nimmt diesen Titel wörtlich:

    "Aktiviert wird sozusagen mehr oder weniger auf gut Deutsch, dass wir den Arsch hochkriegen und schnell in Ausbildung kommen. Ich bekomme hier immer gut zugesprochen, krieg immer gesagt: Du pass auf, wir machen das alles, wir sind für dich da. Ich habe hier halt viel mit anderen Leuten zu tun, mit denen ich so privat eigentlich gar nichts zu tun habe. Und, ja, ich sitz halt nicht den ganzen Tag zu Hause rum."

    Das Projekt, an dem Björn Busch für ein halbes Jahr teilnimmt, ist eine so genannte Aktivierungshilfe der Jobcenter. Die Jugendlichen sollen durch Sport ins Berufsleben eingegliedert werden. Sie sollen Selbstvertrauen und Führungsstärken entwickeln. Begleitet werden sie von der Sozialarbeiterin Catharina Zihms:
    "Viele haben so viele Probleme, dass man mit denen nicht ganz normal arbeiten kann wie mit Jugendlichen, die normal zur Schule gehen oder sonst irgendwas. Wir haben von 6. Klasse Abgangszeugnis bis eben schon mehrere Jahre auf der Straße gelebt alles dabei. Man soll sie ja immer dort abholen, wo sie stehen, was schwierig ist, wenn sie an so vielen verschiedenen Orten stehen."
    Das Gebäude neben dem Bolzplatz vermittelt den Charme eines Jugendklubs. Die Wände sind mit grellen Farben verziert. Die Teilnehmer haben die Wahl zwischen Tischtennis, Fitness und Billard.

    Zweimal in der Woche treffen sich die erwerbslosen Jugendlichen zum Sport. An den anderen Tagen stehen Beratungen auf dem Plan. Zu Themen wie Bewerbung, Ernährung oder Schulden. Oder es werden Ausflüge organisiert, zu Museen und Messen.

    Doch die Arbeit der Pädagogen ist nicht immer einfach. Einige Teilnehmer wollen sich nicht integrieren und zeigen keinerlei Interesse. Die Vermittlung der Jobcenter ist nicht immer effektiv, berichtet Sozialarbeiterin Catharina Zihms:

    "Ich würde sagen, dass es schwierig ist, Jugendliche zu finden, die noch sportbegeistert sind, aber wenn ich mit 13 aus der Schule rausgegangen bin und dann mit 19 in so eine Maßnahme gehen soll und sechs Jahr nichts gemacht habe, ist es schwierig. Ich würde mir natürlich mehr Zuweisungen wünschen, aber auch Zuweisungen, die zu unserer Maßnahme passen und es ist schon schwierig Jugendliche zu finden, die auch wirklich Bock drauf haben."

    Der Mariendorfer Weg in Neukölln, im Süden Berlins. Barbara Westphal betritt die kleine Sporthalle der Thomas-Morus-Schule. Sie ist Vorsitzende des 1. Berliner Judo Clubs. Der Verein zählt 350 Mitglieder, die Hälfte sind Kinder und Jugendliche. Sport ist hier Sozialarbeit, denn rund neunzig Mitglieder stammen aus einkommensschwachen Familien.

    Die 50-jährige Westphal nimmt auf einer Bank Platz, am Rande der Judomatte. Ihr Verein beteiligt sich an einem Programm des Landessportbundes Berlin. Der Titel? Kids in die Sportklubs. Seit 2008 können Kinder und Jugendliche bis zu ihrem 18. Lebensjahr kostenfrei in Vereinen aktiv sein, ihre Mitgliedbeiträge übernimmt der Europäische Sozialfonds. Die Eltern müssen nachweisen, dass sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Barbara Westphal hält das Programm für sinnvoll, doch sie sieht auch Probleme:

    "Wenn die Kinder und die Eltern überhaupt nichts zahlen müssen, dann fehlt auch ein Stück Verbindlichkeit. Das heißt, wenn sie irgendwann keine Lust mehr haben auf Judo und Jiu Jitsu, dann bleiben die einfach weg. Wir können auch nicht mahnen, weil die zahlen ja eh keine Beiträge. 50 Prozent der Kinder, die über dieses Programm zum Verein kommen, von denen bleiben dann ungefähr auch 50 Prozent einfach so wieder weg."

    Der sieben Jahre alte Max hat Geburtstag. Trainer Lars Sperling lobt die Leistungen des jungen Judoka. Acht Kinder sind in ihrem Verein aktiv, deren Beiträge erstattet werden. Insgesamt sind es rund 2000 in Berlin, die kostenfrei Sport treiben. Das sind geringe Zahlen, wenn man berücksichtigt, dass in der Hauptstadt 150.000 Kinder einem Armutsrisiko ausgesetzt sind. Trainer Lars Sperling:
    "Probleme sehe ich der Werbung, dass Kinder hier herkommen, Judo machen wollen, aber häufig davon nichts wissen von diesem Projekt. Das könnte ruhig noch mehr kommuniziert und publiziert werden."

    Der Landessportbund verzichtet auf Werbung, denn in der Verwaltung stoßen Verband und Vereine bald an Grenzen. So muss die Klubvorsitzende Barbara Westphal für jedes Kind einen Antrag ausfüllen, eine Teilnehmerliste führen und pro Quartal eine Abrechnung erstellen. Fußballvereine mit vielen Mitgliedern meiden diesen Aufwand.
    Ob die Unterstützung im künftigen Bildungspaket der Arbeitsministerin von der Leyen vereinfacht wird? Selbst wenn, sagt Barbara Westphal, sei das noch nicht die Lösung:

    "Und eigentlich muss die Hilfe für diese Familien schon früher einsetzen. Dass sie Unterstützung bei der Erziehung bekommen, dass sie also wirklich Lebenshilfe bekommen. Und heute wissen Eltern häufig nicht mehr, wie sie ihre Kinder zu erziehen, wie sie sie groß zu kriegen haben. Ich bin mit meiner Tochter zum Kinderturnen gegangen, da war die ein Jahr alt. Und da fangen die an, soziales Lernen zu lernen."