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Norwegens Vorzeigeinsel (5/5)
Glück und Einsamkeit liegen nah beieinander

Im Alltag auf Utsira merkt man heute nicht mehr viel davon, dass die Insel einst Vorzeige-Standort der Energiewende in Norwegen war. Die Menschen lesen viel. Einmal pro Woche kommt der Arzt vom Festland. Es gibt wenig Probleme. Doch nicht nur die Flüchtlingsfamilien haben mit Einsamkeit zu kämpfen.

Von Gunnar Köhne | 22.12.2017
    Der Leuchtturm der Insel Utsira ist nicht mehr im Betrieb
    Utsiras Leuchtturm ist nicht mehr in Betrieb, schmückt die Insel vor Norwegens Küste aber immer noch (Deutschlandradio/ Gunnar Köhne)
    Wenn es stürmt und regnet auf Utsira und die Gischt krachend die Mauer der Hafenmole überwindet, dann gibt es nur einen Ort, wo man noch Menschen treffen kann: Im roten Rathaus der Insel, dort, wo alle Türen offen stehen und nicht einmal nachts abgeschlossen wird.
    Auf dem Flur im ersten Stock ist es ungewöhnlich voll an diesem Tag. Der Arzt ist endlich da. Vom norwegischen Festland rübergekommen auf die Insel. Eine Mutter wartet mit ihrem fiebrig dösenden Kind, neben ihr zwei ältere Damen in warmen Strickjacken. Ein bärtiger Hüne sitzt etwas abseits, seine schaufelartigen Hände ruhen auf seinen Knien. In zwei Stunden geht die Fähre des Arztes schon wieder zurück. Die Patienten hoffen, bis dahin noch alle ins Behandlungszimmer zu kommen.
    Ein 92-Jähriger unterhält die Runde mit Anekdoten aus jener Zeit, als sich noch keine Ärzte auf die Insel verirrten. Kleinere Wunden seien von der Hebamme versorgt worden. Angelhaken hätten sie sich als Kinder selber aus der Hand gedreht.
    "Aber als ich dann mal einen langen Nagel tief schräg in der Hand sitzen hatte, hieß es, ich solle doch besser zum Arzt. Wir mussten ein paar Stunden auf die Fähre warten. Und als wir dann in Haugesund beim Arzt waren, hat der die Hand erst einmal mit einer Salbe dick eingecremt. Nach einer Weile sagte er dann bloß 'Jetzt können wir ihn rausziehen', packte gegen meinen Widerstand den Nagelkopf, zog und drehte daran und warf den Nagel anschließend auf den Boden."
    Hafen der norwegischen Insel Utsira
    Der Hafen der norwegischen Insel Utsira: Wer aufs Festland will, muss übers Wasser (Deutschlandradio/ Gunnar Köhne)
    Die Utsirer lesen viel
    Während im ersten Stock Anekdoten ausgetauscht werden, herrscht in der Bibliothek im Erdgeschoss des Rathauses konzentrierte Ruhe. Die Bibliothekarin, eine schüchterne, freundliche Frau Anfang 30 sortiert leise Stapel mit Neuerwerbungen. Der neueste Roman des türkischen Autors Orhan Pamuk liegt oben auf. Darunter ein Taschenbuch über den Syrienkrieg:
    "Ja, wir haben hier sehr eifrige Leser. Wenn es um die Ausleihe pro Einwohner geht, liegen wir landesweit an der Spitze."
    Ein Mann betritt zögernd den Raum. Das Deckenneonlicht spiegelt sich in den Wassertropfen auf seiner Allwetterjacke. Aus dem mitgebrachten Beutel zieht er zwei Bücher und legt sie der Bibliothekarin auf den Tisch. Er bedankt sich für den Lesetipp, die Romane hätten ihm gut gefallen. Nun brauche er für die kommende Woche wieder zwei neue Bücher. Er stellt sich als Frührentner vor, der seine Zeit mit Lesen verbringe. Und mit Inselwandern:
    "Utsira hat fantastische Wandermöglichkeiten zu bieten. Jeden Tag kann man etwas anderes erleben, selbst wenn es immer die selben Routen sind, die man gehen kann auf diesem kleinen Gebiet."
    Nebenan, in einem kargen Seminarraum, sitzen zwei schwarze Frauen und beugen sich stumm über fotokopierte Zettel mit norwegischen Konjugationen. Jeg heter – ich heiße, du heter - du heißt. Die beiden Frauen kommen aus Nigeria und gehören zu den drei Flüchtlingsfamilien, die Utsira freiwillig aufgenommen hat. Jeder Flüchtling muss in Norwegen einen dreijährigen Sprach- und Integrationskurs durchlaufen – und zwar dort, wo er hingeschickt wird.
    Freundliche Aufnahme der Flüchtlinge
    Edith heißt eine der beiden Frauen. Müde blickt sie von ihrem Blatt auf, hinter ihr läuft das Regenwasser in symmetrischen Schlieren die Fensterscheibe hinunter:
    "Wir müssen eben erst Norwegisch lernen, bevor wir an einen anderen Ort ziehen können. So ist das Gesetz. Wir können nicht hingehen, wohin wir wollen. Einmal im Monat fahren wir in die Stadt und kaufen ein. Sonst machen wir nicht viel. Wenn wir uns langweilen, gehen wir ein bisschen spazieren."
    Die Menschen hier seien alle gut, versichert Edith, Ablehnung hätte sie nicht erlebt. Die junge Bürgermeisterin legt Wert auf ein liberales Profil der Gemeinde. Im vergangenen Jahr wurde sogar ein Aktionsplan zur Unterstützung von Schwulen und Lesben auf Utsira verabschiedet. Edith findet, Utsira könnte mehr junge Leute vertragen. Dass die Norweger – jung und alt – zu den glücklichsten Menschen der Welt gewählt worden sind, hat sie noch nie gehört. Sie lächelt ungläubig:
    "Norwegen? Ach so? Na, vielleicht weil sie alles haben. Es gibt hier keinen Krieg, keine Probleme und es herrscht Freiheit. Aber man sagt, jeder zweite Norweger ist depressiv. Und ich glaube das hat mit der Einsamkeit zu tun. An solchen Orten wie hier wird man schnell einsam, wenn man sich nicht selbst helfen kann. Wir halten uns mit dem Gedanken aufrecht, dass wir hier ja nicht unser ganzes Leben verbringen müssen."
    Glück und Einsamkeit nah beieinander
    Auf dem Weg zurück zur Fähre, die mich von der Insel Richtung Festland bringt, treffe ich noch einmal Thorleiv Vestre, den Fischer, der mich am ersten Tag in Empfang genommen hatte. Ist er einsam? Früher sei er es nicht gewesen, sagt er, aber jetzt, wo nur noch halb so viele hier im Meer vor der Küste Norwegens leben ... .
    "Das alte Ehepaar, das dort wohnte, ist vor ein paar Jahren gestorben. Da wohnen nur noch im Sommer irgendwelche Verwandte. Jetzt bin ich hier am Nordhafen der einzige, der noch übriggeblieben ist. Ja, das ist sehr traurig, dass sich das so entwickelt hat. Eigentlich unbegreiflich."