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Tourette-Syndrom
Ungesteuerte Verhaltensweisen

Das Tourette-Syndrom hat seinen Namen von dem französischen Arzt Georges Gilles de la Tourette, der an der Pariser Nervenklinik Salpêtrière arbeitete und dort das Phänomen erstmalig beschrieb. Es ist ist eine neuro-psychiatrische Erkrankung, bei der Betroffene sogenannte Ticks haben, willentlich nicht steuerbare Verhaltensweise wie Bewegungen, die keinen Sinn ergeben.

Von Ulrike Burgwinkel | 01.03.2016
    Die Pariser Nervenklinik Hôpital de la Salpêtrière, an der der Arzt Georges Gilles de la Tourette arbeitete. Hier auf einem Stich aus dem 17. Jahrhundert.
    Die Pariser Nervenklinik Hôpital de la Salpêtrière auf einem Stich aus dem 17. Jahrhundert. (imago / Leemage)
    "Ietzt wünsch ich eine gute Nacht, scheissen sie ins beet daß es kracht; schlafens gesund, reckens den arsch zum mund ich gehe itz nach schlaraffen und thue ein wenig schlaffen."
    Auszug aus einem Brief vom 5.11.1777, den Wolfgang Amadeus Mozart an seine Cousine Maria Anna Thekla Mozart, schrieb:
    "Ach ... mein arsch brennt mich wie feüer! Was muß das nicht bedeüten! — vielleicht will dreck heraus? Jaja, dreck, ich kenne dich, sehe dich, schmecke dich..."
    Mozarts Bäsle-Briefe: Ein Fall von Tourette?
    "Die Bäsle-Briefe verraten an einigen Stellen Symptome, die man in Richtung Tourette lesen könnte, aber letztlich wissen wir es nicht und wir können es auch nicht verifizieren und insofern scheint Vorsicht angebracht", meint der Medizinhistoriker Professor Hans Georg Hofer von der Universität Münster. Eine Diagnose im Nachhinein und nur basierend auf schriftlichen Zeugnissen sei nicht zulässig. "Zu den Kriterien von Tourette ist es wichtig zu wissen, dass es zumindest zwei Kriterien geben muss: motorische Ticks, auch das Sprachkriterium ist heranzuziehen und eben auch die biografische Dimension."
    Das Tourette-Syndrom ist benannt nach dem französischen Neurologen Georges Gilles de la Tourette. Er arbeitete in den 1880er Jahren an der berühmten Salpêtrière in Paris, damals die erste Adresse zur Erforschung und Behandlung von Nervenkrankheiten. Hans Georg Hofer:
    "In diesem Dunstkreis versucht der junge Assistenzarzt Tourette, sich mit einem Krankheitsbild zu beschäftigen, das sehr sehr auffällig ist, auch auffällig innerhalb dieses Settings der Salpetriére, wo man sich mit Hysterie, Neurasthenie, diesen Nervenerkrankungen beschäftigt. Aber diese Ticks, das Grimassenschneiden, das Von-sich-geben von unflätigen Ausdrücken, das fällt doch sehr auf."
    In der Salpetriére wurden vornehmlich weibliche Erkrankte und ihre Symptome untersucht und so beobachtete Tourette denn auch das Syndrom bei Frauen.
    "Tourette selbst galt dann später als Enfant terrible der Pariser Medizinerszene, war auch Theaterkritiker. Er erkrankte dann selbst psychiatrisch und verstarb in der Schweiz."
    Damit war auch die nach ihm benannte Krankheit aus dem Gesichtsfeld der Forschung verschwunden. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts, so Hofer, habe man sich erneut dem Syndrom zugewendet.
    "Vincent ist etwas speziell." - "Ich hab 'nen Clown im Kopf, der ständig zwischen die Synapsen scheißt, der mich immer zwingt, immer genau das zu machen, was ich gerade am wenigsten gebrauchen kann." "Wir sind heute hier zusammengekommen." - "Uaah, Fick mich, Fotze." - "Also, da drüben ist unser" - "Fick Dich" - "Wie bitte?" - "Tourette"
    "Das Tourette-Syndrom ist eine neuro-psychiatrische Erkrankung." Professor Georg Romer, Leiter der Kinder-und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Münster. "Da sind die sogenannten Ticks, die auftreten, das sind für die Betroffenen nicht willentlich steuerbare, einfach aus dem Off kommende Verhaltenweisen. Das können motorische Ticks sein, Bewegungen, die keinen Sinn machen, es können aber auch lautmalerische Ticks sein, dass irgendwelche Urschreigeräusche von sich gegeben werden oder was besonders im sozialen Kontext pikant ist, aber auch ganz typisch für diese Tourette-Erkrankung, dass die Betroffenen obszöne Ausdrücke von sich geben."
    Die Erkrankung tritt typischerweise im Kindesalter erstmalig auf, bei Jungen drei mal häufiger als bei Mädchen und wächst sich oft im Rahmen der Hirnreifung während der Pubertät aus, zumindest kommt es häufig zu einer Reduzierung der Symptomatik. Die präzise Diagnose sei schwierig, so Romer.
    "Das Wesen einer psychiatrischen Erkrankung ist unter anderem, dass es keine Laborwerte und keine Apparateuntersuchung gibt, mit der man eine Diagnose sichern kann. Egal, wie viele Befunde man aus der Hirnforschung über die Ursachen hat. Für eine psychiatrische Diagnose – und da gehört das Tourette-Syndrom dazu - sind wir nach wie vor, wie bei der Schizophrenie auch, ausschließlich auf die klinische Beobachtung des Phänomens mit dem erfahrenen Blick des psychiatrischen Untersuchers angewiesen."
    Dazu gehört die genaue Erkundung der Vorgeschichte des Erkrankten. Wann und unter welchen Umständen treten die Symptome auf und wie werden sie vom Betroffenen selbst erlebt? Medikamente können zum Beispiel auch motorische Ticks auslösen. Nicht nur die Diagnose, so Georg Romer, auch die Therapie des Tourette-Syndroms gestalte sich schwierig.
    "Am Anfang der Behandlung steht die Beratung und Ermutigung, dass es für die Betroffenen und ihr Umfeld auch einen Weg geben darf und soll, mit diesem Symptom einen Modus Vivendi zu finden. Es ist ja nichts Schlimmes. Es braucht eine Akzeptanz des Umfelds, das zu verstehen, dass Menschen auch Ticks haben dürfen. Gleichwohl kann es in bestimmten Situationen sehr quälend und sozial beeinträchtigend sein."
    In der Schule, der Ausbildung oder im Beruf spielen Akzeptanz und Toleranz im Umgang mit dem Erkrankten die wesentliche Rolle. Wird der subjektive Leidensdruck des Einzelnen jedoch zu quälend, dann sind Neuroleptika das Mittel der Wahl. Doch auch "weiche" Behandlungsmethoden können helfen, zum Beispiel Entspannungstechniken.
    "Es ist bekannt, dass die Symptomatik unter innerem Druck, unter innerer Anspannung gehäuft auftritt und aus der Logik folgt: Wer sich selber gut regulieren kann, in Stresssituationen zwei Gänge runterschalten kann, die Dinge gelassener angehen kann, schon mal eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, dass das Symptom in Situationen, wo er es gar nicht brauchen kann, auch ihn in Ruhe lässt."
    Georg Romer stützt sich therapeutisch aber vor allem auf musiktherapeutische Maßnahmen. Wie auch bei Stotterern, die niemals stottern, wenn sie singen, so kann auch bei Menschen mit Tourette-Syndrom die Musik heilende Wirkung haben.
    "Es gibt prominente Musiker, die mit dem Tourette-Syndrom leben, die beschreiben: In dem Moment, wo ich musiziere oder komponiere, tritt es nicht auf. Die Musik scheint über bestimmte Mechanismen in Hirnwindungen um die Ecke eine Wirkung zu entfalten. Einen Betroffenen mit Musik in Berührung zu bringen, ihn zum Musizieren zu bringen, um zu merken: Ich habe Spielräume, mit denen ich symptomfrei bin, stärkt auch indirekt das Selbstbewusstsein, die Freiheitsgrade, die Ausdrucksmöglichkeiten und das ist immer auch eine sinnvolle Maßnahme."