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"Touristenplage" in Berlin

Sie fotografieren Graffitis, bestaunen das schmutzige Spreewasser und rennen schon mittags mit Bierflaschen in der Gegend herum: Touristen in Berlin machen die Stadt zum Erlebnispark, lautet die These von Peter Laudenbachs Buch "Die elfte Plage." Er sagt aber auch: Berlin ist Provinz.

Von Andreas Becker | 07.05.2013
    Jetzt, im Frühling, erkunden sie die Stadt wieder in Massen. Fotografieren Graffitis, bestaunen das schmutzige Spreewasser und rennen schon mittags mit Bierflaschen in der Hand durch die Gegend. Die Touristen!

    Inzwischen leihen sie sich auch Räder und lassen sich von vielsprachigen, schlecht bezahlten Stadtführern die hintersten Ecken der Hauptstadt zeigen. Dort, wo sich früher vor Angst keiner hintraute. Viele Kneipen und Restaurants machen längst mehr als die Hälfte ihres Umsatzes mit Kurzzeitgästen. Und immer taucht, von irgendwoher, ein untalentierter Straßenmusiker auf, trötet und will noch Geld dafür.

    Einige Berliner sind zunehmend genervt. Ihr Platz am Stammtisch ist plötzlich von betrunkenen Spaniern besetzt. In der untervermieteten Nachbarwohnung wird bis morgens durchgefeiert. Der Autor Peter Laudenbach behauptet, der Durchschnittstourist wolle vor allem am vermeintlich ach so "echten", auch gern pittoresk kaputten Berliner "Lebensgefühl" partizipieren:

    "Das Spannende ist, der Berlintourist möchte mitspielen in dem Film: das wilde Berlin. Dieser Film kommt im Zweifel auch ohne Berliner aus. Da verrichtet dann wirklich die Projektion ihr wohltätiges Werk. Das heißt, es gibt Kneipen, meinetwegen Simon-Dach-Straße, so ‘ne Ausgehmeile, da sind die Touristen unter sich, pflegen den Absturz-Tourismus und halten das für Berlin. Die Berliner, die Einheimischen, die dort wohnen, stören eher."

    Laudenbach sieht sich zunehmend einem Ballermann-Effekt ausgesetzt, der vom Bürgermeister und seinen Tourismus-Werbern, auch noch angefeuert wird. Ihr Berlinmarketing ist inzwischen so schlau ausdifferenziert, dass für absolut jede Zielgruppe was dabei ist. Die Armut der Stadt, ihre Vermüllung und schmutzige Lautheit schrecken nicht ab, sondern sind längst Standortfaktor. Je trashiger, desto spannender. Sonst könnte man ja gleich Baden-Baden besuchen:

    "Das Schlimmste, was passieren könnte, wenn Berlin so eine richtig ordentliche, saubere Stadt werden würde. Dann müsste man darüber nachdenken, ob nicht im Sinne des Tourismusmarketing ein paar anarchistische Graffitis angebracht werden."

    Aber um die Neuproduktion solcher Sehenswürdigkeiten braucht sich die Stadt nicht wirklich zu sorgen. Theaterkritiker Laudenbach versucht in seinem gelungen polemischen Buch "Die elfte Plage" eine Ethnografie. Die Gäste-Aufführung - für ihn ein triviales Stück, das täglich vor seiner Haustür aufgeführt wird. Und aus dem er aber nicht einfach – wie im Theater – bei Überdruss flüchten kann. Auch wenn er die Berlinfaszination nicht kapiert, so kann er sie doch verreißen:

    "Touristen haben auch die Eigenschaft, dass sie von allem begeistert sind. Touristen fotografieren ja auch wirklich alles. Touristen fotografieren Pfützen auf der Straße, fotografieren Hundekot. Touristen fotografieren parkende Autos."

    "Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet", zitiert Laudenbach Hans Magnus Enzensberger. Die Zerstörung scheint in Berlin aber noch lange nicht abgeschlossen zu sein. Noch gibt es die angeblich bedrohte Art der Ureinwohner. Die schütteln den Kopf an Orten wie dem Checkpoint Charlie. Mauerreste aus Pappe, eine billige Kulisse mit Schauspielern, die sich in GI-Montur vor einer unauthentischen Wachhütte mit Touristen im Arm ablichten lassen.

    Ein türkischstämmiger Kioskbesitzer – seit 40 Jahren in Berlin - schätzt, dass er 20 Prozent mehr Umsatz durch die Touris macht. Auch wenn ihn die Betrunkenen manchmal nerven, er sieht kein Limit:

    "Aber mehr Touristen auf jeden Fall, viel mehr! Mal mach ich ein bisschen Krach, mal macht ein anderer ein bisschen Krach, muss man damit leben."

    Kritiker Laudenbach will lieber nicht verraten, aus welcher westdeutschen Kleinstadt er Mitte der Achtziger nach Berlin-Kreuzberg zog – aber trotz aller Gaffer, der kritische Touristenbuchautor hat seine Kreuzberger Nische gefunden:

    "Ich würde ja auch immer behaupten ohne jede Ironie: Berlin ist Provinz. Berlin hat auch die wirklich angenehme Eigenschaft, dass wenn man hier länger lebt, jeder sich so in seinen Kiez zurückzieht. Deshalb würde ich auch immer sagen, dass Berlin keine schrille Metropole ist, sondern eine unglaublich gemütliche, langweilige Stadt ist, das mag ich an Berlin. Berlin ist provinziell, das ist das Schöne an Berlin."

    Die Stadt, in der sich die Gäste-Bettenzahl seit dem Mauerfall vervielfacht hat, profitiert durch Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und Investitionen. Demnächst will man auch noch eine Hotel-Bettensteuer einführen. Aber, bei allem Gemecker, Berlins Markenzeichen bleibt die Fremdenfreundlichkeit.

    Auch dieses Pärchen aus Tel Aviv, das ich auf einem Neuköllner Markt treffe, kehrt immer wieder zurück – unter anderem, weil sie hier ständig schicke Schuhe finden, die ihnen gefallen:
    "Its very nice, its cheap… hotel very good, it’s the cheapest city in Europe I think. It’s not our first time, we like the atmosphere."

    "Wir fahren ja auch in andere Städte, um uns das anzukucken. Warum sollen die andern nicht hier herkommen, um sich das anzukucken? Berlin ist Masse."