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"Tous des oiseaux" von Wajdi Mouawad in Paris
Wie sich der Krieg in die Psyche einschreibt

David, ein fundamentalistischer Jude, kann nicht akzeptieren, dass sein Sohn eine Araberin heiraten will. Doch dann kommt eine ganz andere Wahrheit ans Licht. Wajdi Mouawads Stück "Tous des oiseaux" am Théâtre de la Colline in Paris wird zum Befriedungsaufruf in einem Krieg der Religionen, dem das Publikum über vier Stunden gebannt folgt.

Von Eberhard Spreng | 18.11.2017
    Der kanado-libanesische Autor Wajdi Mouawad auf der Buchmesse in Frankfurt: Seit April 2016 leitet er das Théâtre national de la Colline in Paris.
    Konfrontiert sein Publikum mit einem vierstündigen Theaterabend: der kanadisch-libanesische Autor Wajdi Mouawad (imago/STAR-MEDIA)
    Der 35-jährige Wissenschaftler Eitan hat an in einer New Yorker Universitätbibliothek Wahida kennen gelernt, sich in sie verliebt und mit ihr eine Beziehung aufgebaut. Und nun möchte er sie seinen Berliner Eltern vorstellen. Aber die Kernszene im ersten Teil von Wadji Mouawad jüdischer Familiensaga endet in einem Fiasko: David, das ist Eitans intoleranter und autoritärer Vater, kann nicht akzeptieren, dass sein Sohn eine Araberin heiraten will. Von Abstammung und Tradition ist die Rede und vom Fortschreiben einer jüdischen Tradition nach den Schrecken der Shoah. Vergeblich argumentiert der junge Biogenetiker im Sinne der genetischen Freiheit, dass sich das Leiden der Vorfahren nicht in den Chromosomen der Nachkommen wiederfinden lasse.
    "Keine Verunsicherung ist Auslöser irgendeines Krebses. Nichts speichert sich ab. Nichts verändert sich. Unseren Genen ist unser Dasein egal. Die Traumata deines Vater stehen in deinen Chromosomen nicht geschrieben. Auschwitz hat nicht in das geringste Gen eingegriffen, nicht in die kleinste DNA meines Großvaters."
    Gesprochen wird Englisch, Deutsch, Hebräisch und Arabisch
    Wajdi Mouawad geht das für eine französische Bühnenproduktion seltene Wagnis ein, sein Publikum mit einem vierstündigen Abend zu konfrontieren, in dem nicht ein einziges französisches Wort gesprochen wird: Englisch, Deutsch, Hebräisch, Arabisch sind die Sprachen, mit dem ein internationales Ensemble unter anderem aus Deutschland, den USA, Israel und Syrien das große Lehrstück über kulturelle und genetische Abstammung vor dem Hintergrund eines unendlichen Nahostkonfliktes erzählt.
    Schnell ahnt man, dass Davids jüdischem Fundamentalismus ein Familiengeheimnis zu Grunde liegt. Eitan forscht dem nach, als er auf seiner Reise ins heilige Land an der israelisch-jordanischen Grenze bei einem Terroranschlag auf seinen Bus schwer verletzt wird. Sein Koma ist die dramaturgische Triebfeder für eine neuerliche Familienzusammenführung in Jerusalem und nunmehr forcierte Aufklärung des von Davids Vater sorgsam gehüteten Geheimnisses. Der war als israelischer Soldat im Sechstagekrieg im verlassenen Haus eines zerbombten palästinensischen Dorfes auf ein zurückgelassenes Baby gestoßen und hatte es im Trubel des Konfliktes als eigenes ausgegeben. Der heute autoritär-fundamentalistische Jude ist ein arabisches Findelkind, eine aus Empathie und Humanismus geborene Lüge und Betrug am jüdischen Volk.
    "Warum sollte ein Soldat mitten im Krieg so etwas machen? Begreife doch endlich: Ich habe dich nicht auf Watte gebettet gefunden, gefunden habe ich dich im Todesgestank. Mein Leben ist auf der Stelle zu einer gewaltigen Lüge geworden. Wir haben alles, 49 Jahre, für ein palästinensisches Kind geopfert."
    Vor dem Hintergrund weiterer Bombeanschläge treibt Wajdi Mouawad mit ungebremster Fabulierfreude und gelegentlich vor Konstruiertheit knirschender Dramaturgie sein Märchen um Schuld und Verwicklungen auf die Spitze, bis alle von den Ereignissen psychisch überfordert im allgemeinen Zerwürfnis dahindämmern. Von den Folgen des Massakers von Sabra und Schatila auf das israelische Selbstverständnis und die hier erzählte Familiengeschichte ist in einer Rückblende die Rede. Wahida treibt es plötzlich nach einem Besuch in Ramallah weg von ihrem jüdischen Freund und ins arabische Milieu ihrer Familie. Konservativen Identitätspredigern dürfte diese dramaturgische Wendung gefallen.
    Modernes Märchen über Schuld und Verwicklungen
    Bei Wajdi Mouawad bleibt den Menschen als Rettung nur die Poesie: Vom amphibischen Vogel eines alten persischen Märchens ist am Ende die Rede. Diesem Fabelwesen wachsen in dem Moment Kiemen, als er in das tabuisierte, verbotene, verlockende Milieu der Fische eintritt. Diese Geschichte funktioniert so etwa wie bei Lessings "Nathan" die Ringparabel als Befriedungsaufruf in Mouawads Krieg der Religionen. Erzählt wird sie von dem syrischen Schauspieler Jalal Altawil, der die historische Figur des Muhammad al Wazzan, spielt, den arabischen Diplomaten und Gelehrten, der zum Christentum konvertierte und der uns als Leo Africanus bekannt ist. Er ist eine weitere Chiffre für das Überschreiten religiöser und kultureller Grenzen, um die es Wajdi Mouawad hier geht.
    Wie sich der Krieg im Libanon in die Familiengeschichten und in die Psyche ihrer Mitglieder einschreibt, das hatte den kanado-libanesischen Autor bislang interessiert. Jetzt, so kündigte er an, wollte er sich mit der Welt seines Feindes befassen, mit Israel. Seinem neuen Stück, einem modernen Märchen, das so ganz in der Tradition der orientalischen Erzählkunst Chronik, Psychologie, Metaphorik und Poesie mischt, folgt das Publikum im großen Saal des Theâtre de la Colline gebannt. Es ist eine Art ost-westliches Volkstheater mit griffiger, stellenweise etwas plumper Spielkunst.
    Mit seiner ersten neuen Arbeit am nun schon seit einem Jahr geleiteten Théâtre de la Colline beweist der Autor und Regisseur alles in allem erneut, dass Theater auch heute noch die großen Konflikte der Welt als Konflikte zwischen Figuren erzählen kann.