Donnerstag, 28. März 2024

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Verfehlte Städtebau-Politik
Verwahrlosung, Gettoisierung und schlechter Ruf

Der Kölnberg ist eine Hochhaussiedlung bei Köln, Tenever das Pendant in Bremen. Beide Stadtteile wurden zum Problem. Vor Ort gibt es viele Initiativen, die dagegen etwas tun wollen - mit unterschiedlichem Erfolg.

Von Barbara Schmidt-Mattern und Franziska Rattei | 24.08.2014
    Plattenhochhaus in Köln-Meschenich
    Plattenhochhaus in Köln-Meschenich (Deutschlandradio / Barbara Schmidt-Mattern)
    Sechs Frauen schwatzen, ein Baby kräht vor sich hin. Noch ist Ferienzeit, die Stadtteilmütter von Köln-Meschenich haben nicht viel zu tun, also gibt's im Besprechungsraum der örtlichen Caritas einen gemeinsamen Kaffee und viel zu lachen...
    "Ich bin Leila El Kurashei. Ich bin Nina, ich komme aus Rumänien. Ich bin die Marina Oligschläger, ich komme von den Philippinen, lebe aber hier in Meschenich seit 30 Jahren."
    Genau das ist das Erfolgsrezept der Stadtteilmütter am Kölnberg: Unterstützung vor Ort aus der eigenen Nachbarschaft. Hilfe ist dringend nötig, denn der Name Kölnberg mit seinen zwei, drei Straßenzügen steht für eine heruntergekommene Plattenbausiedlung im abgelegenen Kölner Stadtteil Meschenich. Integrationsprobleme, Drogen, Arbeitslosigkeit, Prostitution, Kriminalität:
    "Drogen werden draußen - als wär's Kaugummi, oder was weiß ich - verkauft. Das kriegen alle mit. Aber gemacht wird nichts!
    Erzählt Stadtteilmutter Hafize Kus. Ein anderes Problem: Der Müll...
    "Abends werden Sachen von Balkons runtergeschmissen, nicht nur Müll, auch Fernseher... kann man nichts dagegen machen!"
    Tatsächlich hat es bisher kein Kommunalpolitiker oder Sozialarbeiter geschafft, die Zustände auf dem Kölnberg grundlegend zum Besseren zu wenden. Doch umso stolzer sind die Stadtteilmütter auf ihre Strategie der kleinen Schritte. Getragen von der Kölner Verwaltung und von der Caritas, versuchen die Stadtteilmütter Hilfe zu leisten, bevor eine Familie abrutscht. Sie begleiten andere Frauen aufs Amt, sie dolmetschen, betreiben ein Elterncafé, eine Turnstunde für Kinder. Und sie profitieren selbst ungemein von ihrer Arbeit:
    "Habe ich meine deutsche Sprache ein bisschen verbessert."
    Anissa Il Jaddaoui aus Marokko lebt schon seit 16 Jahren am Kölnberg, doch erst durch ihre Aufgabe als Stadtteilmutter hat sie richtig Deutsch gelernt. Es ist ihre erste Beschäftigung überhaupt.
    "Ich liebe meinen Job, und ich würde gerne noch mehr machen... das macht Lust, noch weiter Ausbildung zu machen."
    Stadtteilmütter engagieren sich am Kölnberg
    Anissa Il Jaddaoui weiß jetzt, worauf sie bei der Schulausbildung ihrer drei Jungs achten muss, und sie teilt ihr Wissen mit anderen Familien, häufig Zuwanderern und Flüchtlingen. Das Betreuungsgeld, jene Prämie für Mütter, die keinen Kitaplatz nutzen, findet die 33-Jährige ziemlich dämlich – verpflichtende Sprachkurse hingegen würde sie jedem Zuwanderer wünschen. Alles, was die Frauen und Kinder in Kontakt mit der Öffentlichkeit bringe, sei gut. Denn:
    "Ja, es ist ja so, dass wir im Helfersystem nicht alle immer erreichen."
    Räumt Andrea Rollow ein. Im Auftrag der Caritas koordiniert sie die Arbeit der rund 20 Stadteilmütter in Meschenich.
    Die Verwahrlosung, die Gettoisierung, und der schlechte Ruf von Kölnberg – all diese Probleme sind nicht vom Himmel gefallen. Die Adresse ist ein verheerendes Beispiel für eine verfehlte Städtebau-Politik. Bis in die 70er-Jahre war Meschenich ein verschlafenes Dorf, umgeben von Gemüsefeldern, und mit ausgewogener Bevölkerungsstruktur. Dann folgte die Eingemeindung, und – ganz dem Zeitgeist entsprechend – entdeckten Stadt und Investoren den Kölnberg als preisgünstigen Wohnraum. Möglichst viele Menschen auf möglichst wenig Raum, so lautete die Devise: Plattenbau, 26 Etagen, über 4000 Menschen in 1300 Wohneinheiten – drum herum ein bisschen Grün. So habe man sich das ausgemalt, erzählt Mike Homann, der zuständige Bezirksbürgermeister:
    "Man hat gedacht, über ein Bauherrenmodell, das wär eine super Sache. Da werden Eigentumswohnungen entstehen, qualitativ für die damalige Zeit gute Wohnungen, in ländlicher Lage. Das ist aber leider reichlich schiefgegangen."
    Das heißt, eine Zeit lang ging es gut. Vor allem Migranten und Kleinverdiener fanden erschwinglichen Wohnraum in einem der Hochhäuser. Einige sind bis heute geblieben, doch wer sich irgendwann etwas Besseres leisten konnte, zog wieder weg. Zurück blieben soziale Randgruppen - und eine zunehmende Stigmatisierung.
    Die Satellitenlage von Meschenich weit außerhalb der Stadt verschärft die Probleme zusätzlich, sagt Marco Jessen, Geschäftsführer der Drogenselbsthilfe Vision e.V.
    "Es gibt keine gute Anbindung, das öffentliche Verkehrssystem ist fatal. Und da wurde dann so ein Riesenplattenbaukomplex mit Tausenden von Wohneinheiten hingesetzt. Und die Probleme waren dann schon fast zwangsläufig. Was man, glaube ich, unterschätzt hat, ist, wie viel sozialen Sprengstoff so eine Konstellation beinhaltet, wenn man (sie) sich komplett selber überlässt."
    Doch Jessen sieht nicht nur die Verantwortlichen vor Ort in der Pflicht, sondern er richtet den Blick auch Richtung Berlin. Die Kommunen müssten die Folgen einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik ausbaden:
    "Letzten Endes ist es die Bundesregierung, die da in der Pflicht ist, die zunehmend in den letzten Jahren Mittel eingespart hat und gerade Randgruppen, die ziemlich weit vom ersten Arbeitsmarkt entfernt sind, komplett abgeschrieben hat."
    Bremen-Tenever
    Bremen-Tenever. In der Kindertagesstätte "Kinderhafen" findet die regelmäßige Stadtteilgruppensitzung statt. Wo tagsüber die Kleinen herumtollen, finden nun rund 50 Stühle Platz.
    Die Meisten sind von Quartiersbewohnern besetzt. Aber auch die Leiterin der Kita ist da, ein Polizist in Uniform ist gekommen, der Ortsamtsleiter, der Bereichsleiter des städtischen Wohnungsunternehmens und der Quartiersmanager Jörn Hermening mit seiner Kollegin Saskia Jimenez, die heute Abend die Sitzung moderiert.
    "Ich fang jetzt an!"
    Seit 1989 haben mehr als 200 Stadtteilgruppensitzungen stattgefunden. Sie sind ein wichtiges Kapitel in der Geschichte Tenevers, weil sie den Bewohnern des Stadtteils im Bremer Osten Mitbestimmung zusichern. Es herrscht Konsensprinzip – das heißt: Jede einzelne Stimme hat ein Veto-Recht. Unter anderem geht es um den Einsatz von Geldern aus verschiedenen Förderprogrammen – insgesamt jährlich mehr als 250.000 Euro. Meist ehrenamtlich sind in den vergangenen 15 Jahren rund 1000 Projekte in Gang gekommen - die benötigen regelmäßig Finanzspritzen; so auch das Café Gabriely, ein Stadtteil-Café, das preiswerten Mittagstisch anbietet. Eine Mitarbeiterin erklärt ihr Anliegen.
    "Ja, und da brauchen wir halt für die Betriebskosten und für Honorar – möchten wir gern Gelder beantragen. - gibt es Gegenstimmen? Nein. Dann würde ich sagen: Dem Antrag wird stattgegeben. Es werden 2.000 Euro von WIN genehmigt."
    Programme wie WIN, kurz für „Wohnen in Nachbarschaften", hat der Bremer Senat seit Ende der 1980er-Jahre beschlossen, um langfristig Stadt- und Stadtteilentwicklungspolitik zu finanzieren. Vor allem die Bewohnerbeteiligung soll gefördert werden. In Tenever haben die Menschen diese Mittel zum Beispiel verwendet, um interkulturelle Gärten anzulegen, um eine Skaterbahn für Jugendliche zu bauen oder um Conciergen-Dienste in ihren Hochhäusern zu etablieren.
    Selbstbeteiligung der Bewohner in Bremen Tenever
    Bremen-Tenever – ein Stadtteil mit rund 1.700 Wohnungen, die inzwischen fast alle dem städtischen Wohnungsunternehmen gehören. Leerstände gibt es keine; stattdessen Wartelisten. Bremen-Tenever ist kein „In-Stadtteil", gemütliche Straßen-Cafés und Bioläden gibt es hier nicht. Dafür aber erschwingliche Mieten in sauberen und sanierten Hochhäusern, gepflegte Grünflächen, Kinder auf Spielplätzen und eine Direkt-Straßenbahnlinie in die Stadt. Kein Vergleich zu früher, sagt Thorsten Eden, der vor einem Jahr hergezogen ist.
    "Es ist sehr multikulti, und wir wohnen so weit hoch jetzt, dass man wirklich weit gucken kann. Ich muss ehrlich sagen: Als wir das erste Mal ein Gewitter mitgemacht haben – ich war vollauf begeistert."
    Ortswechsel – Köln. Hier hat sich in den vergangenen Jahren zumindest ein Problembewusstsein entwickelt, dass der Kölnberg besser organisierte Hilfe braucht. Seit 2007 gibt es einen sogenannten Sozialraum-Koordinator, der zahllose soziale Dienste miteinander vernetzt. Und trotzdem ist der Bezirksbürgermeister frustriert:
    "Wir haben mittlerweile 63 soziale Einrichtungen, die sich dort engagieren, am Kölnberg. Und kriegen es nicht hin!"
    Räumt Mike Homann mit bemerkenswerter Offenheit ein.
    "Dann muss ich mich fragen, es ist doch Aufgabe eines Eigentümers in einem solchen Haus dafür zu sorgen, dass zumindest im Haus alles vernünftig läuft."
    Gemeinsam mit Sozialarbeitern erhebt der Kommunalpolitiker schwere Vorwürfe gegen eine der beiden Immobilienfirmen, die im Auftrag der Eigentümer bestimmte verwaltungstechnische Aufgaben auf dem Kölnberg übernehmen. Von Kakerlaken ist die Rede, von Gestank und kaputten Aufzügen. Draußen werde das wenige Grün abgeholzt und für die Mieter sei fast nie jemand erreichbar.
    Die Stadtteilmütter der Caritas in Meschenich bei einer Besprechung, Hafize Kus und Anissa Il Jaddaoui mit Kopftuch (von rechts).
    Die Stadtteilmütter der Caritas in Meschenich, Hafize Kus und Anissa Il Jaddaoui (von rechts). (Deutschlandradio / Barbara Schmidt-Mattern)
    Gegenüber dem Deutschlandfunk erklärt die betreffende Wohnungseigentumsverwaltung schriftlich, man verwalte das Budget einiger Großeigentümer. Mit der Auswahl und gegebenenfalls der Betreuung der Mieter habe man gar nichts zu tun. Bloß aus Kulanz kümmere man sich um die Mieter der kleinen Eigentümer.
    Marco Jessen von der Drogenhilfe lässt unterdessen kein gutes Haar an dem Unternehmen und an den Eigentümern:
    "Da geht's um kalte Kalkulation. Und wie verträglich das für nen Stadtteil ist, wie verträglich das auch für die direkte Nachbarschaft ist, das interessiert dann nicht. Also da geht's wirklich um Gewinnmaximierung, bis sie dann irgendwann unbewohnbar sind, und dann ziehen sich solche Gesellschaften ja in der Regel auch zurück."
    Von Junkies vermutlich über die Balkon-Reling gehievt, fiel in der Hochhaussiedlung am 12. Juni dieses Jahres eine Leiche aus dem neunten Stock auf den Rasen. Es war der leblose Körper eines Drogenabhängigen, der zuvor, so vermutet die Kölner Staatsanwaltschaft, in einer Hochhauswohnung an einer Überdosis gestorben war. Die Leiche schlug direkt vor den Fenstern eines Kindergartens auf.
    "Als ich das erste Mal gehört habe, war ja, naja, Schmerz. Als wäre der Müll vom Balkon runtergeschmissen. Traurig."
    So wie Hafize Kus, der Stadtteilmutter von der Caritas, erging es in den ersten Tagen nach dem grausigen Fund vielen Bewohnern des Kölnbergs.
    Die Tat habe in der Drogenszene Wut, Trauer und Hilflosigkeit ausgelöst, sagt Marco Jessen. In der Selbsthilfe-Anlaufstelle sei der Mann durchaus bekannt gewesen. Jessens Verein "Vision" kümmert sich am Kölnberg vor allem um die abhängigen Frauen. Unter den Prostituierten, die durch eine Sperrgebietsverordnung jetzt seltener vor dem Aldimarkt, dafür aber direkt im Wohngebiet stehen, sind viele Drogenkonsumentinnen. Entsprechend hoch ist auch die Beschaffungskriminalität. Bewohner und Helfer auf dem Kölnberg sehen in all dem einen elenden Teufelskreis. Auch die Stadtteilmütter stoßen hier an ihre Grenzen. Hafize Kus:
    "Alleine kann man nix machen. Die Polizei kann auch nix machen. Das Ordnungsamt kommt hin, die Frauen sind weg. Zwei Minuten später sind sie wieder da. Normalerweise reden die Frauen, aber wenn es um den "Beruf" geht, dann sperren sie sich."
    Können Stadtteile, kann Stadtplanung aus sich heraus Elend hervorbringen? Ralf Schumann vom Bremer Wohnungsunternehmen Gewoba hat am Beispiel Bremen-Tenever schon viel darüber nachgedacht. Er sagt:
    "Es war wohl gut gedacht, aber eben halt nicht gut gemacht."
    Früher Monopoly der Investoren in Bremen
    Schumann ist bei der städtischen Gewoba der Geschäftsbereichsleiter für den Bremer Osten. Er verwaltet rund 10.000 Wohnungen, mehr als 1.400 davon liegen in Tenever. Noch in den 90er-Jahren gehörten die meisten dieser Wohnungen unterschiedlichen Eigentümern, die Monopoly mit ganzen Straßen spielten, erzählt Schumann. Die Versicherungsgesellschaften und Immobilienspekulanten holten aus den Häusern so viel Miete heraus wie möglich und verkauften sie dann weiter. Um die Instandhaltung kümmerten sie sich nicht.
    "Man hat ja damals nach dem städtebaulichen Ziel "Urbanität durch Dichte" relativ eng und hoch gebaut. Man hatte hier eine Fußgängerebene gehabt, die war vier Meter über Terrain. Und da hatte man sich vorgestellt, dass das eine Kommunikationsszene war. Aber da ist nie jemand durchgegangen. Darunter waren dann Eingänge in sehr dunklen Verhältnissen. Hatte man den Eindruck, dahinter steht jemand, und man kommt hier nicht lebend raus."
    1998, als Schumann seine Arbeit in Tenever aufnahm, stand rund ein Drittel der damals noch knapp 3.000 Wohnungen leer. Die Drogenszene zog ein, der Vandalismus nahm zu. In den Treppenhäusern stank es nach Urin, die Tiefgaragen waren verdreckt, oft wurde dort Müll angezündet. Sylvia Suropa zog 1984 nach Tenever und wohnt noch heute hier. Sie erinnert sich noch gut an das schlechte Image des Stadtteils.
    "Jeder zeigte auf Tenever. Wenn ein Mord passiert war, war es immer Tenever. Überschrift: Tenever. Jeder Teneveraner wusste: Die Straße ist gar nicht hier im Viertel, sondern die ist ganz woanders. Aber erst mal dick Überschrift: Tenever. Als wären wir nur alles Asoziale, Alkoholiker. Drogenabhängige und Mörder. Es wurde einfach stigmatisiert."
    1990 engagierte Bremen Joachim Barloschky als Tenevers ersten sogenannten Quartiersmanager. Seitdem hat sich der Stadtteil zu dem entwickelt, was er heute ist.
    "Wir haben gesagt, wir protestieren, wir kämpfen. Im Ergebnis kam dann ja auch raus, dass ab '89 für Tenever ein sogenanntes Nachbesserungsprogramm aufgelegt wurde. Man wollte die notwendigen Investitionen, auf die wir ja aufmerksam gemacht haben, Punkt um Punkt mit Städtebauförderungsmitteln in die Reihe bekommen. Da haben wir von vornherein, als Bewohneraktivisten gesagt: Sehr gut! Sehr richtig! Begrüßen wir! Und wir wollen aber, dass darüber nicht irgendwelche Leute, die von Tenever keine Ahnung haben, alleine entscheiden, sondern wir wollen Mitbestimmung."
    Negativschlagzeilen verändern
    Am Kölnberg im Süden Kölns haben sie vor vier Jahren versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Das Negativimage und die Schlagzeilen über die "Straße der Angst" hingen - und hängen - den Bewohnern zum Halse raus. Also fand 2010 in einem der Plattenbauten der erste Hochhauslauf im Viertel statt, letztes Jahr der zweite. Das war nicht nur gesund, sondern auch identitätsstiftend. Rund hundert Frauen, Männer und Kinder rannten um den ersten Platz: 26 Etagen, 416 Stufen. Der Gewinner – ein Feuerwehrmann – war nach zwei Minuten oben. Veranstaltungen wie diese würden im Viertel dringend gebraucht, meint Marco Jessen:
    "Ein Wettrennen, das Anwohner aus den unterschiedlichsten Communities zusammengebracht hat: Migranten, Drogengebraucher, normale Eltern, die auch dahin gekommen sind, um sich mal zu informieren oder einfach nur eine Bratwurst zu essen. Also, ich glaube, so was braucht es einfach noch an viel mehr Möglichkeiten zur Begegnung, und da sind schon erste Schritt gemacht in die Richtung."
    Jedes Getto habe seine eigene traurige Geschichte, sagt Jessen. Der 44-Jährige stammt übrigens aus Bremen. In den 90er-Jahren hat er dort bei der AIDS-Hilfe in Tenever gearbeitet. Jessen kann die beiden Trabantenstädte gut vergleichen:
    "Was, glaube ich, der größte Unterschied zwischen dem Kölnberg und Tenever ist, ist, dass Osterholz-Tenever eine andere Anbindung an die Stadt hat. Dass Osterholz zwar ein bisschen das Schmuddelkind von Bremen ist, aber jedem ist bewusst: Das ist ein Teil von Bremen. Und das erlebe ich beim Kölnberg deutlich anders. Das ist mehr so dieses verschwiegene, uneheliche Kind. Und Tenever ist so das schwarze Schaf in der Familie, aber... es ist halt auch da!"
    Doch auch Tenever war nicht von Anfang an das schwarze Schaf von Bremen. Seitdem der Stadtteil in den 70er-Jahren fertiggestellt worden war, entwickelte er sich zehn Jahre lang zu seinem Nachteil. Es kamen mehrere Probleme zusammen: die bauliche Situation, die Stadtrandlage, die hohe Zahl der arbeitslosen Bewohner und die Immobilienspekulation.
    1989 endlich beschloss die Bremer Bürgerschaft ein Nachbesserungsprogramm für Tenever und weitere vier Quartiere, um den Niedergang dieser Viertel zu verhindern; dazu gehörten städtebauliche Mittel, Personal und Bewohnerbeteiligung. Mancher befürchtete, dass die Teneveraner Wunschlisten für Traumwohnungen erstellen würden. Derartiges ist nicht passiert. Im Gegenteil: Die Bewohner gingen sehr vernünftig und realistisch mit den Geldern um. Und sie fühlten sich zum ersten Mal ernstgenommen, weil sie mitbestimmen durften: beim Sanierungskonzept, bei der Farbgestaltung der Häuser, bei der Landschaftsarchitektur. Deshalb ist es gut gegangen, sagt Ralf Schumann vom städtischen Wohnungsunternehmen Gewoba.
    "Also, da muss man mutig sein. Aber das haben wir hinbekommen. Aber wenn das dann akzeptiert ist, und wenn sich die Menschen, die sich da engagiert haben, sich in der Wirklichkeit ein Stück weiter wiedersehen - dann hat das eine andere Wertigkeit und Haltbarkeit. Dann achten die Leute da mehr drauf."
    Mit Vandalismus hat Tenever heute keine Probleme mehr. Die Bewohner engagieren sich in vielen unterschiedlichen Gruppen: vom Kinderbauernhof über das alkoholfreie Jugendcafé bis hin zum Beratungszentrum für Arbeitslose - wer will, ist eingebunden in das Quartier. Bewohnerbeteiligung funktioniert, sagt Jörn Hermening, den das Amt für Soziale Dienste als Quartiersmanager in Tenever beschäftigt. Die Baustelle Quartiersentwicklung ist fast fertig, sagt er. Aber:
    "Was nicht fertig ist, ist die Armut und die soziale Benachteiligung der Menschen, die hier leben. Also wir sind in einem der reichsten Länder der Welt. Und es ist trotzdem so ungleichmäßig verteilt. Das weiß ich nicht, ob wir in der Stadtteilgruppe das verändern können. Wir können unterstützen und fördern, aber das Große und Ganze – da ist vielleicht auch die Politik gefragt, um da was dran zu drehen."