Dienstag, 19. März 2024

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Traditionen der Kirchengeschichte
"Zeigen, dass es Alternativen gibt"

Frauen hatten in der Kirchengeschichte ähnliche Aufgaben wie männliche Bischöfe. Das schreibt Hubert Wolf von der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster in seinem neuen Buch "Krypta". Es gebe Alternativen zu Praktiken, die "manchmal daherkommen, als ob sie Ewigkeitscharakter" hätten, sagte er im Deutschlandfunk.

Hubert Wolf im Gespräch mit Andreas Main | 28.01.2015
    Hinter dem vergoldeten Otto-Mathildenkreuz aus der Zeit nach 982 betrachtet ein Mann am Freitag (22.08.2008) Exponate in der Domschatzkammer in Essen.
    Eine der wichtigen Abtissinnen war Mathilde II, Äbtissin des Stiftes Essen, die auf dem Otto-Mathilden-Kreuz aus dem 10. Jahrhundert abgebildet ist (picture alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner)
    Andreas Main: Krypta – dieser Titel eines neuen Buches von Hubert Wolf – er klingt beim ersten Lesen etwas kryptisch. Nicht ganz leicht zu deuten. Beim Untertitel sieht es schon anders aus: "Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte" heißt es da. Und wer den Autor kennt, und das dürften einige sein, weil seine Bücher ausgesprochen populär sind, wer also Hubert Wolf kennt, der weiß: Sein neues Buch "Krypta" dürfte alles andere als kryptisch sein. Und ist es auch nicht. Von der ersten bis zur letzten Zeile gut verständlich auch für Menschen jenseits theologischer Universitäten. Hubert Wolf ist Kirchenhistoriker, Professor an der Katholischen Theologischen Fakultät der Uni Münster. Heute erscheint sein Buch "Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte" und er ist uns nun zugeschaltet in einem Studio in Münster. Guten Morgen, Herr Wolf.
    Hubert Wolf: Guten Morgen.
    Main: Beginnen wir an der Oberfläche – beim Titel "Krypta". Das ist in christlichen Kirchen ein Raum unter dem Altar, unter dem Chor. Wie übersetzen Sie das Wort "Krypta"?
    Wolf: Ja, es ist bewusst natürlich mehrdeutig gewählt. "Krypta" ist einerseits in der Tat das Fundament der Kirche. Die Kirche ist aufgebaut über dieser "Krypta": Dort steht der Altar, darunter ist das Märtyrergrab. Es geht also um die Fundamente. Andererseits heißt "Krypta" ja auch verborgen, verschüttet, geheimnisvoll. Das ist eben die zweite Bedeutung. Oft hat man die Krypten der Kirchen – der romanischen Kirchen – später zugeschüttet und zugemauert, damit eigentlich das Fundament unsichtbar gemacht, etwas verborgen. Dem Kirchenhistoriker geht es darum, eben diese Fundamente der Kirche in ihrer Tradition wieder frei zu legen, sie sozusagen wieder zugänglich zu machen für die momentanen Diskussionen um die Kirchen und ihre Reformen.
    Main: Es geht also um verborgene, versteckte Fundamente. Sie suchen nach verschütteten Traditionen der Kirchengeschichte. Sind die einfach verschüttgegangen oder hat jemand aktiv diese Traditionen verschüttet?
    Wolf: "Manche Traditionen sind verschüttgegangen"
    Wolf: Es stimmt beides. Manche Traditionen sind verschüttgegangen, sie haben sich aus welchen Gründen auch immer anderen Modellen beugen müssen. Es gibt aber durchaus natürlich Traditionen, die von denen, die daran ein Interesse hatten, sie zu unterdrücken, unterdrückt worden sind, weil sie möglicherweise ihren Einfluss, ihre Kompetenz, ihre Macht beschnitten hätten.
    Main: In der Krypta der verschütteten, unterdrückten Tradition der Kirchengeschichte: Da graben Sie zum Beispiel Frauen aus, Frauen mit bischöflicher Vollmacht, oder Laien, die Sünden vergeben. Wie sind Sie vorgegangen bei dieser – bildlich gesprochen – archäologischen Arbeit?
    Wolf: Naja, das erste ist, dass die katholische Kirchengeschichte nicht davon ausgeht, dass es eine ideale Zeit in der Geschichte der Kirche gibt, die sozusagen die Norm für die Reform sein könnte. Denn "re-formare" heißt ja im Wortsinn "zurückformen". Das heißt, wenn eine Reform in der Kirche stattfinden soll und wenn die erfolgversprechend sein soll, geschieht sie am besten im Rahmen der von der Geschichte abgedeckten Traditionen. Das heißt, ich habe einfach in den letzten 25 Jahren meiner Lehr- und Forschungstätigkeit mich immer wieder Themen zugewendet, von denen ich glaubte, dass gängige aktuelle Praktiken, die manchmal auch so daherkommen, als ob sie einen Ewigkeitscharakter hätten – wo ich versucht habe, diese gängigen Praktiken mit alternativen Modellen aus der Kirchengeschichte parallel zu setzen. Deshalb habe ich eine ganze Reihe von Modellen – in dem Buch sind es zehn, die jetzt mal dargelegt werden. Es gibt natürlich unendlich viel mehr. Ich wollte einfach nur mal zeigen – an unterschiedlichen Beispielen aus unterschiedlichen Bereichen, dass es Alternativen gibt – zu dem, was heute en vogue ist. Das ist – glaube ich – die wesentliche Aufgabe der Kirchengeschichte. Kirchengeschichte befragt ja einen theologischen Erkenntnisort – die Geschichte – und bringt sozusagen alles, was in der Geschichte vorhanden ist, wieder zum Vorschein. Sie deckt sozusagen den ganzen Tisch der Traditionen, damit man heute in der Kenntnis der ganzen Traditionen diskutiert. Sie sprechen diese Äbtissinnen an, die bischöfliche Vollmacht hatten ...
    Main: Das waren ja keine Revoluzzerinnen, das waren Frauen mit Vollmacht. Die agierten quasi phasenweise wie Bischöfe, aber auch im Rahmen der kirchlichen Traditionen. Was ging damals? Was ging nicht – für Frauen als Äbtissinnen?
    Wolf: Ja, gut, das erste ist, dass es eine Tradition ist, die acht- oder neunhundert Jahre lang praktiziert wird. Also, nicht nur mal 15 Jahre, sondern über Jahrhunderte hinweg und an ganz unterschiedlichen Orten, ganz unterschiedlichen Abteien – also eine relative breite Tradition. Jetzt ist im Grunde die Frage, die ich auch noch nicht endgültig beantworten kann im Buch: Warum können diese Frauen quasi bischöfliche Vollmacht oder bischöfliche Vollmachten ausüben? Also, die setzen Pfarrer ein und ab, die visitieren Pfarreien, die zu ihrem Gebiet ihrer Abtei, ihre Diözese gehören. Sie sitzen dem Ehegericht vor, geben Dispensen, wenn es notwendig ist, damit bei einem näheren Verwandtschaftsgrad geheiratet werden kann. Sie haben eigentlich all die jurisdiktionellen Vollmachten, die ein Bischof auch hat. Das einzige, was sie nicht machen: Sie teilen keine Weihen und lesen nicht die Messe. Wenn man sich jetzt den Weihe-Ritus dieser Äbtissinnen anguckt und ihn vergleicht mit der Bischofsweihe, dann gibt es sehr, sehr viele Parallelen. Jetzt kann man fragen: Ist die Äbtissinnen-Weihe eine kleine Bischofsweihe, oder ist es sie nicht? Wenn man aber zu dem Ergebnis käme, es sei keine Weihe, dann kann man mit einem Blick auf die Geschichte sagen, es gibt aber eine ganze Reihe von Männern – auch in Deutschland, die als Fürstbischöfe jurisdiktionell agiert haben, ohne jemals eine Weihe empfangen zu haben. Das heißt, ich kann Vollmacht ausüben in der Kirche über viele Jahrhunderte, ohne dass ich dazu die Bischofsweihe brauche. Erst das Zweite Vatikanische Konzil bindet die Jurisdiktionsvollmacht an die Weihevollmacht. Also: Wer Vollmacht ausüben will in der Kirche, braucht als Bedingung die Bischofsweihe. Wenn ich jetzt rauskriegen kann, dass es entweder geweihte Frauen gibt – was man noch nicht definitiv weiß – oder dass Frauen, selbst wenn sie nicht geweiht sind, jurisdiktionelle Vollmacht ausüben wie ein Bischof, dann ergibt sich doch für die Reform der Kirche momentan eine ungeheuer spannende Option. Und die muss man auf den Tisch legen. Denn dann würde ja ein Re-form, eine Zurück-Formung im Rahmen der kirchlichen Traditionen stattfinden können.
    Main: An diesem Punkt hat Ihr Buch ja auch etwas Subversives. Dadurch, dass Sie alte neue Möglichkeiten, wie Kirche sein kann, in Erinnerung rufen, geht es Ihnen offenbar darum, Freiheit zu eröffnen. Ist das womöglich die Aufgabe des Kirchenhistorikers?
    Wolf: "Kirchenhistoriker muss die Optionen auf den Tisch legen"
    Wolf: Der Kirchenhistoriker muss die Optionen auf den Tisch legen. Und natürlich werden diejenigen, die momentan in der Option, die sich gerade durchgesetzt hat, in einer Machtposition sind, skeptisch sein gegen historisch verbürgte, alternative Modelle. Ich meine: In dem Moment, wo es Modelle gibt, bei denen die Gemeinde nachweislich den Bischof wählt – also in der Alten Kirche, wer allen vorstehen soll, der muss auch von allen gewählt sein. Wenn dieser Grundsatz der Alten Kirche mal in die Diskussion gebracht wird im Hinblick auf die momentane Praxis der Bischofsstuhlbesetzung, dann ist doch relativ klar, dass damit diejenigen, die momentan das sagen haben – das ist vor allem der Papst, der die Bischöfe weitgehend frei ernennt – das ist doch klar, dass da eine subversive Kraft aus einem alternativen Modell hervorgeht. Aber der Kirchenhistoriker würde sich überheben, wenn er seine historischen Modelle sozusagen zu idealen Lösungen für die Gegenwart machen würde. Darum geht es gar nicht, sondern es geht darum, in der Reformdiskussion die historische Stimme zu Gehör zu bringen und zu sagen: Wir haben in der Geschichte unserer Kirche diese Traditionen gehabt. Wir würden also keinen Traditionsbruch vollziehen, wenn wir wieder Elemente daraus gegebenenfalls heute fruchtbar machen würden. Im Gegenteil: Eine Reform, ein reformare, ein Zurückformen funktioniert nur auf der Basis der von der geschichtlichen Realität gedeckten Traditionen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.