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Traditionshandwerk
Drehorgelbau im digitalen Zeitalter

Drehorgeln sind wahre Kunstwerke des Musikinstrumentenbaus, die heute ungefähr so viel kosten wie ein neuer Kleinwagen. Noch gibt es, etwa in Deutschland, einige wenige Kleinbetriebe, die im Zeitalter von MP3 und Musicclouds Drehorgeln herstellen. Diese Tradition zu bewahren ist nicht einfach, aber aufregend, wie die Geschichte einer Werkstatt in Berlin zeigt.

Von Maximilian Grosser | 20.12.2015
    Drehorgel-Mann Miros spielt am 27.02.2015 in Berlin vor dem Brandenburger Tor.
    Drehorgel-Mann Miros spielt vor dem Brandenburger Tor eine traditionelle Drehorgel aus dem Hause Stüber (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Wo Milos Kozon auftritt, bildet sich immer eine Menschentraube. Fast jeder zückt schnell die Kamera, wie hier vorm Brandenburger Tor. Denn der Drehorgelspieler sieht aus, als hätte ihn Alfred Döblin entworfen, für seinen Roman "Berlin Alexanderplatz". Mit Hut, Lackschuhen und Tweed-Anzug erinnert der Slowake Kozon an die goldenen Zwanzigerjahre.
    "Ein bisschen teurer Spaß, aber schön, 10.000 Euro plus minus."
    Der Straßenmusiker zeigt auf seine Drehorgel, den eigentlichen Star seines Auftritts. Denn die ist kein altes, immer wieder geflicktes Instrument – sondern ein perlmuttbesetzter Schatz mit feinen Intarsien und farbigen Bildern, produziert 2015. Ein Meisterstück des Berliner Drehorgelbauers Axel Stüber.
    "Willkommen bei Orgelbau Stüber."
    In Axel Stübers Werkstatt riecht es nach Holzleim und Lack. Auf den Werkbänken stehen mit Blumenmustern verzierte schwarzlackierte Drehorgelkästen. An den Wänden stapeln sich Schraubenkisten. Daneben hängen fein säuberlich aufgehreiht Stechbeitel, Zangen und filigrane Feilen in einem Werkzeugschrank. Ein Mitarbeiter macht sich gerade an einem Holzstück zu schaffen, einer Windlade, dem Herzstück der Drehorgeln.
    "Sie sehen hier den Bankraum, nennen wir ihn, wo das Manuelle im Regelfall gefertigt wird. Der Kollege bohrt gerade kleine Löchelchen frei. Eigentlich ist es im Orgelbau ja immer so, dass man nur Löcher braucht und deswegen wird ein bisschen Holz eingerichtet."
    Immer wieder Aufträge von Filmemachern
    Axel Stüber stammt aus einer Pfarrersfamilie. Als Kind hat er Orgelbauern fasziniert zugeschaut, in der Kirche seines Vaters – und später selbst Orgelbau gelernt. Inzwischen ist er 61 Jahre alt und fertigt mit seinen zwei Kollegen rund 50 Drehorgeln pro Jahr. Einer Trompetenorgel verpasst er gerade den letzten Schliff.
    Es ist Stübers liebster Arbeitsschritt: das Stimmen und Intonieren des Instruments.
    "Ich bemühe mich, den Klang der Pfeifen auszugleichen. Die Pfeifen sollen meiner Ansicht nach einen schönen Klang haben, einen tragenden Klang. Und dann wird die Lautstärke ausgeglichen."
    Jeder Pfeife nimmt sich der Drehorgelmeister einzeln an, dreht an kleinen Schräubchen und macht so aus dem Instrument eine Drehorgel, wie sie in den 1920er Jahren auf Berlins Straßen zu hören war.
    "Der Berliner Klang ist scharf, feuriger, kräftiger, weil ja die typische Berliner Drehorgel früher über die Hinterhöfe geschoben wurde. Und im Regelfall waren im Winter die Fenster zu. Aber die Orgel würde drin gehört werden."
    Stüber steht nun in seinem Verkaufsraum. Er spannt eine Papierrolle in eine der vielen Drehorgeln um ihn herum. Wie eine Lochkarte von alten Computern sieht sie aus. Sie enthält allerdings kein Programm, sondern typische Berliner Musik.
    "Das sind natürlich Berliner Melodien, vom 'Zickenschulz aus Bernau', bis Berliner Luft 'Unter Linden', die man mit Berlin verbindet."
    Nicht ohne Grund schauen immer wieder Filmemacher bei Axel Stüber vorbei, wenn sie ein berlintypisches Instrument suchen. Und auch, weil er wie kein anderer das historische Erbe der Berliner Drehorgel beherrscht.
    Drehorgeln haben Tradition in Berlin
    Heute ist Axel Stüber so etwas wie der Nachfolger des berühmten Italieners Giovanni Battista Bacigalupo. Der war verantwortlich dafür, das 1930 bis zu 800 Drehorgelspieler Berlins Hinterhöfe beschallten.
    "Es gab um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert eine italienische Kolonie rund um die Schönhauser Allee. Und in dieser italienischen Kolonie war auch die Familie Bacigalupo dabei, die Stradivaris unter den Drehorgelbauern."
    Immer wieder landen Bacigalupo-Orgeln in Axel Stübers Werkstatt, alles Erbstücke, die er zur Erinnerung reparieren soll. Sie sind Reliquien einer untergegangenen Epoche, als Berlin das Weltzentrum der Drehorgel war. Dennoch: hin und wieder sind Stübers Drehorgeln auf der Straße zu hören – oder wie jetzt auch auf Weihnachtsmärkten.