Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Träumerische Wirklichkeit

Ein Mann verfolgt mit dem Auto ein Luftschiff kreuz und quer durch Amerika, weil in dem Luftschiff seine entführte Braut sitzt. Ein Jazztrompeter, der sich eines kleinen Vergehens schuldig gemacht hat, muss zur Strafe in einem Camp für schwer erziehbare Jugendliche arbeiten und verliebt sich in die Tochter des Anstaltsleiters, die sich aber mit einem der Insassen einlässt. Ein Country-Sänger wird bei einem Unfall gelähmt, doch bei seinen Auftritten sind seine Körperfunktionen intakt. Ein junger Mann empfindet Mitleid mit einer Sex-Puppe und rettet sie vor ihrer Bestimmung. Ein unscheinbarer Durchschnittsmensch begegnet einer berühmten Schauspielerin, deren Gesicht nach einem Unfall und kosmetischer Chirurgie abstoßend entstellt ist, und zwischen den beiden entwickelt sich eine leidenschaftliche Beziehung.

Von Klaus Modick | 27.04.2004
    Solche und andere Geschichten erzählt Scott Snyder, geboren 1976 in New York, in seinem ersten Buch Happy Fish. Auf den ersten Blick fühlt man sich bei diesen Erzählungen in der Sicherheit eines präzisen Realismus; doch der wird immer auf sanfte, fast unmerkliche Weise ins Skurrile und Groteske überführt, ins Irreale und Traumhafte, manchmal auch Alptraumhafte. In der Detailfreude, mit der Lebenswelten, Dinge und Geschehnisse des Alltags, aber auch Psychologien, Traumata und Phantasieproduktionen beschrieben werden, weist diese Erzählstrategie entfernte Verwandtschaft zu T. C. Boyle auf – der Klappentext jedenfalls will es so.

    Doch Snyders Figuren haben fast nichts von Boyles satirischer Überzeichnung, und ihnen fehlt auch durchweg der sichere Grund eines verbindlichen Realitätszusammenhangs. Bei Snyder ist der Vorhang zwischen Realität und Absurdität sehr fadenscheinig, und der Autor interessiert sich besonders für jene Stellen, an denen von der anderen, fremden Seite etwas aufscheint und durchleuchtet, etwas, das dem so genannten gesunden Menschenverstand rätselhaft bleibt oder entgeht.

    Es gibt Träume, die unserem Wachbewusstsein so dicht aufliegen, von tatsächlichen Ereignissen unseres Lebens sich nur so minimal abheben, dass wir später nicht mehr unterscheiden können, was Traum war und was Wirklichkeit. Snyders Stories funktionieren wie diese wirklichkeitsnahen Träume. "Treibgut", die beste Geschichte des Bandes, in der die amour fou zwischen entstelltem Hollywoodstar und bescheidenem Jedermann beschrieben wird, entwickelt diese Erzählstrategie am subtilsten.

    "Ich stellte mir vor", heißt es da etwa, "wie sie mit den Händen in den Gesäßtaschen ihrer Jeans den Waldweg zu meinem Haus heraufkam. Ich sah sie tatsächlich durch das flirrende Sonnenlicht auf mich zukommen." In diesen beiden unscheinbaren Sätzen wird unauflösbar kurzgeschlossen, was die Energie dieser Texte ausmacht: Die Schwellenlandschaft zwischen Sein und Schein, Vorstellungen als phantasierte Möglichkeiten in ständig fluktuierender Beziehung zur Tatsachenwelt, gesunder Menschenverstand als Illusion.

    Scott Snyder
    Happy Fish. Stories
    dtv premium, 220 S., EUR 14,-