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Tragen, um getragen zu werden

Der Mensch trägt Kleider und Hüte, Hand- und Aktentaschen, dazu Uhren und Schmuck. Er trägt jedoch auch so etwas wie Verantwortung. Kulturwissenschaftliche Dimensionen des Tragens loteten Wissenschaftler jetzt auf einer Tagung aus.

Von Barbara Leitner | 26.05.2011
    "Jeder Heilige ist dadurch erkennbar, was er trägt. Wir erkennen die Mutter Gottes an dem Jesuskind. Sie erkennen den Heiligen Christophorus an dem Christusknaben auf seiner Schulter. Sie erkennen die Heilige Katharina an dem Buch, was sie trägt."

    Professorin Annette Kehnel, Mittelalterhistorikerin von der Universität Mannheim. Sie hatte die Idee für diese Tagung.

    "Und der Zusammenhang, was ein Heiliger trägt und dem was er ist, seiner Identität der hat zum ersten Mal eine sichtbare Ikone für das Thema Tragen geschaffen. Der Mensch ist, was er trägt, wäre gewissermaßen so eine Kurzformel. Er trägt seine Identität mit sich. Im Falle der Heiligen wäre noch hinzuzufügen, dass die Zeichen, die sie auszeichnen, seine Insignien, immer auch die Geschichte transportieren. Den kopftragenden Lysann erkennen wir als den Märtyrer und die Geschichte die dadurch deutlich wird ist seine Genese als Heiliger. Was der Mensch trägt ist auch ein Teil seiner Geschichte, offenbart einen Teil seiner Vergangenheit."

    Tragen zu können - so ein Ausgangspunkt der Tagung in Dresden - war ein wichtiger Faktor für die biologische, kulturelle und soziale Evolution der Menschen. Sie sammelten und jagten und brachten die Nahrung zu ihren Rastplätzen und die Fähigkeiten, tragen zu können und aufrecht zu gehen, waren dabei offensichtlich eng miteinander verknüpft. Wie der Gebrauch von Werkzeug und die Entwicklung der Sprache diente auch das Tragen der Menschwerdung und der Ausbreitung der neuen Spezies um den Erdball. Annette Kehnel:

    "Vielleicht hätte die Menschheit gar nicht überlebt, wenn sie ihre Brut nicht zu tragen gelernt hätte. Und das ganze weiter geführt: Wenn der Mensch nicht tragen könnte, könnte er die Produkte nicht vom Ort ihrer Entstehung zum Ort des Handels oder Vertriebs transportieren. Das heißt Marktbildung, wirtschaftliches Handeln, auf die Zukunft gerichtetes Handeln wäre ohne die Tragefähigkeit gar nicht denkbar. Also Tragen ist auch eine Form der Problemlösungsstrategie, die versetzte Handlungsstränge erlaubt."

    Erst durchs Tragen war es möglich Besitz zu akkumulieren, Gemeinschaften zu organisieren, Rituale zu zelebrieren und Bauwerke zu erreichten und wie es genau geschieht, darin unterscheiden sich Kulturen. Es scheint natürlich zu sein, wenn in Afrika Wasserbehälter oder auch Bücher auf dem Kopf getragen werden. Und doch ist Tragen ein kulturelles Zeichen, ist der Ethnologe Prof. Timo Heimerdinger von der Universität Innsbruck überzeugt. Er forscht zu Kulturen von Elternschaft in Europa. In dem Zusammenhang beschäftigte er sich auch mit dem Tragetuch, in dem seit den 70er Jahren hierzulande Babys transportiert werden:

    "Interessant ist für mich, mit welchen Argumenten getragen wird. Vordergründig könnte man sagen, es handelt sich um eine praktische Angelegenheit. Aber hinter dieser Fassade der Praktikabilität spielen sich Positionen, Haltungen, Wertsetzungen bezüglich unserer Identität ab. Und da ist beim Tragetuch zu beobachten, dass die Konnotation mit Natürlichkeit, mit Ursprünglichkeit, mit Indigenität, mit Low Tech, ein ganz spezifisches Milieu, ein linksalternatives Milieu angesprochen hat und mit einer oppositionellen Botschaft verknüpft war - gegen Technisierung, gegen Entfremdung, gegen Körperfeindlichkeit."

    Mütter und Väter nehmen eine Last auf sich, nicht nur um im öffentlichen Raum weiter flexibel zu sein. Sie zeigen auch: Das Kind ist ein Teil von mir, mir nahe, wichtig. Die Forschungen von Motivationspsychologen aus den zurückliegenden Jahrzehnten bestätigen: Einem Sachverhalt nicht nur kognitiv zu begegnen und ihn zu denken, sondern ihn auch sinnlich-körperlich zu erfahren, verändert die menschliche Wahrnehmung. Etwas Schweres finden wir nicht nur schwerwiegend, sondern auch gewichtig, bedeutsam. Das ist das Thema, zu dem der Psychologe Nils Jostmann von der Universität Amsterdam forscht:
    "In unseren Forschungen benutzen die Versuchspersonen beschwerte Objekte und wir zeigen, dass diese körperliche Erfahrung und Benutzung eines Objektes, dass Versuchsteilnehmer mit dem, mit dem sie beschäftigt sind, dass die das wichtiger nehmen, dass sie das bedeutsamer finden und bereit sind, darüber nachzudenken, also auch mehr zu investieren, um zu verstehen, worum es geht."

    Er ließ Probanden bei der Befragung ein schwereres Klemmbrett halten. Das führte dazu, dass Studierende ihre Einstellung zur Mitsprache im Universitätsgeschehen änderten und Amsterdamer Bürger sich für eine größere Beteiligung in der Kommunalpolitik aussprachen.

    Das scheint paradox, ist doch der menschliche Fortschritt auch begleitet von einer Geschichte der Entlastung vom Tragen. Die Menschen schufen sich Rollen und Räder, Riemen und Gurte, Kiepen und Karren, Kräne, Flaschenzüge und Wagen, um nicht länger schwere Gewichte auf sich nehmen zu müssen. Dabei sieht Annette Kehnel eine Last, von der sich der Mensch nicht befreien kann.

    "Das größte Defizit, was der Mensch eigentlich biologisch hat, ist die Tatsache, dass er sich seiner eigenen Sterblichkeit bewusst ist und das macht ihm so zu schaffen. Dieses Bewusstsein des eigenen Todes ist eigentlich die Last, die wir tragen müssen."

    Auf diesen Zusammenhang deutet auch sprachlich die Verwendung des Wortes "tragen" hin. Seit dem 8. Jahrhundert veränderte es sich wenig und es ist fast alternativlos, um zu benennen, was man mit sich führt. Die Grundbedeutung bleibt: Etwas auf sich nehmen. Dabei verrät das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache: Wir tragen in unserer Zeit - jedenfalls was die Wortbenutzung angeht - weniger Hüte, Titel, Anzüge oder Kopftücher, dafür umso mehr Sorge, Bedeutung, Rechnung, Schuld und vor allem Verantwortung. Gerade die Wissenschaft verlangt nach "Ideenträgern", die Lösungen für gesellschaftliche Probleme finden. Prof. Christian Holtorf von der Hochschule Coburg zeigt an Beispielen, was Forscher dafür alles auf sich nehmen.

    "Zur Arktisforschung gehört, um dort oben zu überleben und Forschung betreiben zu können, das Ausrüstungsmaterial mitzutragen. Man fährt mit dem Schiff los. Aber dann gerät man irgendwann ins Packeis und dann geht es darum, auch das Schiff von Menschenhand über das Eis zu tragen bis zur nächsten freien Wasserfläche. Das ist jetzt vielleicht ein spezielles Thema, aber ich glaube, dass immer auch Mühseligkeit zum wissenschaftlichen Prozess gehört und eben auch Dinge ertragen dazu gehört. Man bringt Opfer, man ist müde, wenn man aber einen Versuch noch abschließen muss. Man arbeitet vielleicht sieben Tage die Woche, man empfindet richtig körperliche Schmerzen auch, etwa in der Geschichte der Elektrophysik, kann man zeigen, dass es am eigenen Körper ausprobiert wurde, ob eine Leitung geladen ist. Da fasst man eben mal dran."

    Dennoch kommt es nach Meinung von Prof. Holtorf nicht auf die körperliche Erfahrung an. Der Mensch nimmt vor allem symbolisch Lasten auf sich und macht damit Ordnungsvorstellungen sichtbar. Im Mittelalter trugen die Herrscher eine Krone, um soziale Hierarchien zu verdeutlichen. Heute sind es Anzüge von Boss oder Armani. Zugleich verwandelt sich der Mensch zu einem Werbeträger mit den Herstellernamen auf der Kleidung und dem Einkaufsbeutel. Und mit Piercing und Tattoos trägt er Zeichen auf der Haut, um sich als einzigartige Persönlichkeit zu erkennen zu geben. Wozu das Ganze? Prof. Holtorf kommt für die Wissenschaft zu folgendem Schluss.

    "Ich glaube, etwas zu tragen ist eine Sprache, ein Ausdruck. Man lässt es andere sehen, man teilt es mit, was man alles auf sich nimmt, weil man und das ist meine zweite These: Man trägt, um getragen zu werden. Man will Anerkennung, dazu gehört auch finanzielle Anerkennung, Bewilligung von Forschungsprojekten oder Wahrnehmung in den Medien oder in welcher Währung auch immer das bezahlt wird. Und das sind alles Beispiele für das Getragenwerden von der Öffentlichkeit, von Politikern, von Stiftungen."