Dienstag, 19. März 2024

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Trauerarbeit
Wenn die Kinder vor den Eltern sterben

Für Eltern ist es das wohl denkbar Schlimmste, was passieren kann: Der Tod des eigenen Kindes. Manuela Binge hat das vor sieben Jahren durchgemacht. Ihre Tochter starb mit vier Jahren. Heute ist Manuela Binge Trauerbegleiterin, engagiert sich in Trauergruppen und versucht, andere Betroffene zu unterstützen.

Von Astrid Wulf | 11.12.2017
    Michaela Binge steht an einem Tisch mit einem Foto ihrer verstorbenen Tochter.
    Michaela Binge hat es sehr geholfen, sich mit anderen betroffenen Eltern auszutauschen (Deutschlandfunk / Astrid Wulf)
    "Eigentlich ist es der wahrgewordene Albtraum, den man da erlebt. Im Haus wird's plötzlich still, niemand mehr, der auf dem Fußboden krabbelt. Niemand, der nachts "Ma" ruft und zu einem ins Bett möchte."
    Sieben Jahre später kann Michaela Binge ruhig und einigermaßen gefasst über den Tod ihrer Tochter reden. Der Blick der 46-Jährigen ist klar und fest, ihre Hände ruhen auf ihrem großen, weihnachtlich geschmückten Wohnzimmertisch. Im Haus hängen viele Familienbilder an der Wand, auch von Lara. Ihr drittes Kind war offensichtlich kerngesund zur Welt gekommen, hatte aber Probleme, sprechen und laufen zu lernen. Mit drei bekommt Lara schwere Krampfanfälle, irgendwann diagnostizieren die Ärzte einen schweren Gendefekt.
    Tiefes Loch nach der Beerdigung
    "Wir haben sie bewusst mit nach Hause genommen, und drei Tage später starb sie dann auch bei uns im Elternbett."
    Nach der Beerdigung fällt Michaela Binge in ein tiefes Loch. Sie starrt stundenlang aus dem Fenster, versucht, für die anderen beiden Kinder zu funktionieren. Ihre Rettung sind andere Eltern, die wie sie ein Kind verloren hatten. Michaela Binge schließt sich einer kirchlichen Selbsthilfegruppe an.
    "Ich weiß, dass ich das erste Mal abends da saß und gesagt hab: Ich brauche Menschen zum Reden. Ich habe das Gefühl, ich werde verrückt."
    Trauer und Wut von der Seele reden
    Die Lübecker Pastorin Bettina von Seidel-Rob weiß, wie gut es den Eltern tut, sich Trauer und Wut von der Seele reden können – und zwar solange wie es nötig ist. Denn selbst wenn ein Kind stirbt, gehen Bekannte, Lehrer und Kollegen irgendwann zur Tagesordnung über, sagt sie. Auch das Gefühl, nach solchen Schicksalsschlägen nicht alleine zu sein, hilft. Deswegen ist der Gottesdienst zum weltweiten Kerzenleuchten für viele Eltern ein fester Termin, sagt die Pastorin.
    "Die kommen immer wieder. Und die nehmen die, die neu sind, eigentlich sehr herzlich in ihre Mitte. Es ist unglaublich wichtig, dass die sich untereinander vernetzen und austauschen."
    Michaela Binge hat sich als Trauerberaterin ausbilden lassen und leitet heute die Selbsthilfegruppe, die sie vor Jahren aufgefangen hatte. Früher habe man Trauernden geraten, irgendwann mit dem Verlust abzuschließen und nach vorne zu sehen, sagt sie. Viel gesünder sei es allerdings, verstorbenen Kindern einen festen Platz im Familienleben zu geben.
    Festen Platz im Familienleben geben
    "Jedes Jahr gibt es eine Anzeige in der Zeitung. Viele fragen natürlich: Muss man das jedes Jahr machen? Ja, wir müssen das machen. Uns ist das heute auch noch wichtig, dass wir das machen."
    Mittlerweile sei auch Weihnachten wieder schön, sagt Michaela Binge – es habe allerdings gedauert, mit dem leeren Platz unterm Weihnachtsbaum zurechtzukommen. Feste Rituale helfen der Familie dabei: Der Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder zum Beispiel. Auch die Bescherung läuft mittlerweile anders ab:
    "Inzwischen haben wir angefangen, zu würfeln. Jeder, der eine sechs würfelt, darf sein Geschenk auspacken. Da wird viel gelacht dabei. Und ich glaube, das ist ganz wichtig – dass wieder gelacht wird in der Familie."