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Trauerfeier für Frank Schirrmacher
Staatsakt in der Republik des Geistes

Die deutsche Politik- und Kulturszene hat Abschied von Frank Schirrmacher genommen. In der Frankfurter Paulskirche gedachten unter anderem Bundespräsident Joachim Gauck, Springer-Chef Matthias Döpfner sowie das gesamte FAZ-Feuilleton dem Autoren und FAZ-Mitherausgeber.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 05.09.2014
    SPD-Europapolitiker Martin Schulz, Bundespräsident Joachim Gauck mit Lebensgefährtin Daniela Schadt sowie Rebecca Casati, Lebensgefährtin von Frank Schirrmacher auf der Trauerfeier.
    SPD-Europapolitiker Martin Schulz, Bundespräsident Joachim Gauck mit Lebensgefährtin Daniela Schadt sowie Rebecca Casati, Lebensgefährtin von Frank Schirrmacher auf der Trauerfeier. (dpa/picture alliance/Frank Rumpenhorst)
    "Wir sind doch Journalisten", lautete einer der Ermunterungssätze, mit denen Frank Schirrmacher seine Kollegen in der Redaktion zu motivieren pflegte. Und gerade die Tatsache des Journalistseins machte die heutige Veranstaltung so seltsam und sonderbar. Denn außer für Rudolf Augstein hat es in der Bundesrepublik noch für keinen Journalisten eine so groß inszenierte Trauerfeier gegeben wie diese, bei der der Bundespräsident und Sarah Wagenknecht, der Chef der Axel Springer AG und der Euro-Sozialist Martin Schulz sowie das gesamte Feuilleton der FAZ in Betriebsausflugsstärke dicht beieinandersaßen.
    Nach kurzen und sehr persönlichen Ansprachen des Frankfurter Oberbürgermeisters, des hessischen Ministerpräsidenten und des derzeit geschäftsführenden FAZ-Herausgebers Holger Stelzner hielten der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Dieter Graumann und Schirrmachers Doktorvater, der in Stanford lehrende Romanist Hans Ulrich Gumbrecht die eigentlichen Trauerreden.
    Graumann erinnerte an drei Fallbeispiele, in denen Schirrmacher sich mutig und massiv für die jüdische Sache eingesetzt hatte: den Anti-Reich-Ranicki-Roman von Martin Walser, das Anti-Israel-Gedicht von Günter Grass und die antisemitisch gefärbte Beschneidungsdebatte.
    Schirrmacher war ein Vorläufer
    Gumbrecht indes betrachtete und beleuchtete die geistigen und persönlichen Qualitäten seines Freundes aus einer Intimperspektive, von der man zu Schirrmachers Lebzeiten leider viel zu wenig erfuhr.
    "Er gründete mit 14 die imaginäre Firma Comium - Computer, Umwelt, Mikroskopieren -, was dann später die Adresse seines E-Mail-Accounts war (ich habe mich jahrelang gefragt, warum "schirrmacher@comium"... das ist der Grund!). Er hatte einen Chemiebaukasten, trug einen weißen Laborkittel, und bei der Familie kam sehr viel sonderbares Infomaterial von Forschungsfirmen an, bei denen er mit 14 Jahren seine Comium Corporation zur Bemusterung hatte akkreditieren lassen. Er war das sehr früh, was wir heute einen Nerd nennen. Und das früher als alle anderen. Auch da war er ein Vorläufer."
    Das Vorläuferhafte, das Frühe haftete Schirrmacher zeitlebens an: jüngster Feuilletonchef, jüngster Herausgeber, man muss sich bremsen, um seinen frühen Tod nicht irgendwie folgerichtig zu finden.
    "Er wirkte jung auf alle. Nicht jung wie jemand, der sich peinlicherweise jung halten wollte, sondern jung wie einer, der vor Eile und Intensität vergessen hatte, seine Kindheit oder seine Jugend abzulegen. Er wirkte jung auch, weil er seine Meinungen änderte und weil er in profunder Weise unideologisch war, was ihm die deutsche Öffentlichkeit eigenartigerweise nie übel genommen hat - vielleicht weil man intuitiv verstand, dass Frank Schirrmacher ein Philosophem der Postmoderne unserer Zeit verkörperte, dergestalt, dass in Kants Zeiten ein Urteil treffen zu müssen ohne stabile Kriterien die Ausnahmesituation des ästhetischen Urteils war, während das heute die allgemeine Situation geworden ist. Und Frank Schirrmacher hatte im Kantschen Sinn - und im Sinn einer kraftvollen Jugendlichkeit - Urteilskraft."
    Seine Leidenschaft formte eine Diskurskultur
    Diese Kraft trieb Schirrmachers Schreibstil an: Er schrieb, wie Hans Ulrich Gumbrecht es ausdrückte, laut, szenisch und gestisch. Er war und schrieb leidenschaftlich und er formte mit seiner Leidenschaft eine Diskurskultur, die es als solche sonst so sicher nicht gegeben hätte.
    "In den knapp zwei Jahrzehnten, in denen sein Name jeden Morgen auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, war er die zentrale Kraft in diesem Land, die die deutsche Öffentlichkeit lebendig und wach hielt - genau in dem Sinn der Philosophie der Öffentlichkeit, die ein Frankfurter Professor - Jürgen Habermas - entwickelt hat und nach der wir in der Öffentlichkeit das bloße Leben, das nackte Leben, das ernste Spiel und das ungeschliffene Leben investieren sollen und eben nicht unsere schon geformten Strategien und Ideologien und Interessen."
    Die Bereitschaft zum unideologischen, undogmatischen Selberdenken und die damit verbundenen geistigen Zickzackbewegungen wurden Schirrmacher vielleicht nur deswegen nicht auf die übliche deutsche Weise verübelt, weil jeder sein Pathos spürte und insgeheim als Sinnstiftung verehrte - auch wenn das nur wenige so klar herausschälen können wie Hans Ulrich Gumbrecht, der Schirrmachers größtes Vermächtnis darin sieht, eine Mythologie der Gegenwart geschaffen, zumindest an ihr gearbeitet zu haben.
    Am letzten Sonntag seines Lebens - aus Rom, wie ich heute weiß - bekam ich eine E-Mail von Frank Schirrmacher, in der es (und er schrieb E-Mails in diesem eigenartig altmodischen Telegrammstil, so als müsse man immer Worte sparen) in der es hieß: "Habe eine ganz große Idee - - wird alles verändern - - müssen sofort telefonieren". Ich werde nie erfahren, was diese Idee war. Und eigentlich waren die jeweiligen Ideen, Richtungen und Werte sekundär angesichts dieser Kraft, dieser Urkraft, dieser Naturkraft von Frank Schirrmacher.
    Heute wäre Schirrmacher 55 Jahre alt geworden. Die Trauerfeier in Frankfurt war ein Staatsakt in der Republik des Geistes.