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Traumatologe hilft IS-Opfern
"Ich kann all das Schreckliche nur erahnen"

Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz IS jesidische Dörfer im Nordirak. Tausende Männer wurden ermordet, mehr als 5.000 Mädchen und Frauen gerieten in IS-Gefangenschaft. Viele konnten fliehen. Baden-Württemberg ermöglicht Jesidinnen psychotherapeutische Therapien durch Trauma-Experten. Der deutsch-kurdische Psychologe Jan Kizilhan leitet das Projekt.

Von Marie Wildermann | 03.08.2016
    Der Traumatologe Jan Ilhan Kizilhan aus Baden-Württemberg sitzt am 4. Oktober 2015 mit Sarah (Name geändert) im nordirakischen Dohuk im Büro des baden-württembergischen Sonderkontingents für bis zu 1.000 traumatisierte IS-Opfer aus dem Nordirak. Die 20-Jährige wurde im vergangenen Jahr von der Terrormiliz "Islamischer Staat" verschleppt, verkauft, vergewaltigt und geschlagen.
    Traumatisierte Mädchen und Frauen in den kurdischen Flüchtlingscamps können in Deutschland eine Psychotherapie erhalten. Geleitet wird das Projekt vom deutsch-kurdischen Psychologen Jan Kizilhan. (picture alliance / dpa / Stefanie Järkel)
    Als am 3. August 2014 IS-Terroristen die jesidischen Dörfer des Sindschar überfallen, können Shirin, ihre Mutter und Geschwister nicht mehr rechtzeitig fliehen. In ihrem Buch "Ich bleibe eine Tochter des Lichts" beschreibt Shirin den Einmarsch der IS-Milizen:
    "Die ersten Gesichter aus den an uns vorbeifahrenden Fahrzeugen waren uns bestens bekannt. Egal, ob Handwerker, Lehrer oder Ärzte, alle unsere arabischen Nachbarn schienen sich offenbar der ISIS angeschlossen zu haben."
    Die 19-jährige Abiturientin Shirin gerät in IS-Gefangenschaft. Ihr Vater ist beruflich unterwegs, das hat ihm das Leben gerettet. Shirin – es ist ihr Pseudonym, in Wirklichkeit heißt sie anders – ist sieben Monate in IS-Gefangenschaft. Sie lebt in ständiger Angst, wird an mehrere Männer verkauft. Wenn sie sich gegen die Vergewaltigungen durch IS-Terroristen wehrt, wird sie halb totgeschlagen. Sie wird zu einem Emir der Terrormiliz gebracht, dem alle IS-Kämpfer der Region unterstellt sind. Er ist einer der brutalsten ihrer Peiniger.
    "Mir war bewusst, dass mir kein falsches Wort über die Lippen kommen durfte, ansonsten würde er mir dafür umgehend den Hals durchtrennen. Allein sein Erscheinungsbild flößte mir Todesangst ein. Sein Gesicht war hart und brutal."
    In ihrem Buch beschreibt sie auch, wie es ihr schließlich gelingt, dieser Hölle zu entkommen. Nach der Flucht aus dem IS-Gebiet erreicht sie ein kurdisches Flüchtlingscamp und trifft ihren Vater wieder, der einzige aus der Familie, dem der IS-Terror erspart blieb.
    Traumaeinrichtungen bieten Stabilisierung, Sicherheit und Orientierung
    Im Flüchtlingscamp bekommt sie Kontakt zu den Mitarbeitern des Hilfsprogramms, das vom Land Baden-Württemberg initiiert wurde. Das Programm bietet traumatisierten Mädchen und Frauen in den kurdischen Flüchtlingscamps die Möglichkeit einer psychotherapeutischen Behandlung in Deutschland. Geleitet wird das Projekt vom deutsch-kurdischen Psychologen Jan Kizilhan.
    Kizilhan ist ein erfahrener Trauma-Experte, seit 20 Jahren arbeitet er in diesem Bereich. Er hat Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Ruanda behandelt. Er leitet die Abteilung einer psychosomatischen Klinik in der Nähe von Stuttgart. Kann ein männlicher Therapeut verstehen, was sexuelle Folter für Frauen bedeutet?
    "Sie erzählen mir ihre Geschichte und ihr Leid und all das Schreckliche, was sie erlebt haben, ich kann es nur erahnen, ich kann es nicht nachfühlen. Können Sie sich vorstellen, was es heißt, im Konzentrationslager gewesen zu sein? Wir können es nicht. Ich kann’s mir auch nicht vorstellen, wenn die Achtjährige mir gegenübersitzt und über ihre Vergewaltigung spricht, was das für Schmerzen sein müssen, Albträume, Ängste, allein in einem dunklen Zimmer zu sein, den ganzen Tag, jeden Tag nicht zu wissen, wenn die Tür aufgeht, was passiert, ich kann es mir nicht vorstellen, weil ich’s nicht erlebt habe. Und dennoch müssen wir schauen, dass wir den Menschen irgendwo helfen, sie in die Lage zu bringen, damit umzugehen."

    22 Einrichtungen in Baden-Württemberg haben traumatisierte Jesidinnen aufgenommen. Die ersten Schritte heißen Stabilisierung, Sicherheit und Orientierung. Dazu gehören auch wiederkehrende Tagesabläufe und das Lernen der deutschen Sprache. Erst dann kann die Therapie beginnen. Und die nimmt nicht nur das individuelle Trauma in den Blick, sondern beschäftigt sich auch mit dem kollektiven Trauma der Jesiden, das geprägt ist von Völkermorden.
    Demonstranten protestieren am 03.08.2015 unter dem Fernsehturm in Berlin gegen die Verfolgung der Jesiden durch den islamischen Staat im Nordirak.
    Jesiden demonstrieren gegen die Verfolgung durch die Terrororganisation "Islamischer Staat". Mehr als 1.000 Mädchen und Frauen, die aus der IS-Gefangenschaft fliehen konnte, sind bisher nach Deutschland gekommen. (dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm)
    Im Osmanischen Reich wurden sie immer wieder zwangsislamisiert oder getötet. Jesidinnen gezielt durch sexuellen Missbrauch zu entwerten und zu zerstören - das gehört zur Strategie des islamistischen IS, oder wie Kizilhan sagt, des faschistischen IS:
    "Wenn eine junge Frau mir sagt, eine Sechzehnjährige, ich hab meine Ehre verloren, dann sag ich, wer hat denn die Ehre verloren, Sie oder der IS-Kämpfer? Hier müssen wir nochmal über Werte und Normen sprechen. Ist das tatsächlich so, nur weil die Kultur irgendetwas vor hundert Jahren erfunden hat, gesagt hat, ist es heute noch gültig?"
    Viele der vergewaltigten Mädchen quält - neben dem Leid, das sie ohnehin schon zu bewältigen haben – auch noch das Gefühl von Schande und Scham.
    "Und die Gefahr bestand und besteht auch, dass diese jungen Frauen nach der Freilassung durch die IS von ihrer eigenen Gemeinschaft diskriminiert werden."
    Unterstützung durch den hohen Priester der Jesiden
    Viele vergewaltigte Jesidinnen haben Selbstmord begangen. Und darum war es wichtig, so Kizilhan, mit dem spirituellen Oberhaupt der Jesiden zu sprechen.
    "Wir haben mit dem hohen Priester der Jesiden, dem Baba Sheich, gesprochen. Und bei den Jesiden ist es normalerweise so gewesen, dass Menschen, die eine sexuelle Beziehung zu einem Nicht-Jesiden haben, nicht mehr Jesiden sind. Und diese Regel gibt es seit 800 Jahren. Nun sind Tausende Frauen, jesidische Mädchen vergewaltigt worden von Nicht-Jesiden und sind damit automatisch aus dieser Gesellschaft raus. Und wir haben lange mit ihm gesprochen, auch vor dem Projekt, und gesagt, es kann nicht so weitergehen, die jungen Mädchen können nichts dafür. Sie werden doppelt bestraft. Und Sie bestrafen Ihre Gemeinschaft, indem Sie auf Tausende von Menschen verzichten.
    Wenn eine Religion so unbarmherzig ist, kann es keine Religion sein. Und da hat er nach vielem Hin und Her und Diskussionen – es gehört auch Mut dazu, Regeln nach 800 Jahren zu ändern, da kann man nicht einfach mit dem Finger schnippen und sagen, jetzt ändern wir das mal – hat dieser 86-jährige alte Mann gesagt, ja, wir müssen das ändern, weil sie können nichts dafür und sie sind weiterhin unsere Kinder."
    Seitdem werden jesidische Mädchen und Frauen in Lalish, dem heiligen Ort der Jesiden, durch bewegende Zeremonien wieder aufgenommen in die Gemeinschaft. Das ist nicht nur ein Paradigmenwechsel im Jesidentum, es trägt auch entscheidend zur Heilung der Mädchen und Frauen bei.
    Shirin, die ihr Buch zusammen mit Jan Kizilhan geschrieben hat, sei auf einem guten Weg, sagt der Psychologe. Sie hat Deutsch gelernt, möchte ihr Abitur nachholen und Jura studieren. Sie versucht, anonym zu bleiben, denn ihre Mutter und ihre Geschwister sind noch immer in den Händen des IS.