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Traurige Existenzialisten-Fabel

In "Die Fliegen" funktionierte Jean-Paul Sartre die Orestie des Aischylos um: weg von der Tragödie des Schicksals, hin zu einer der Freiheit. Andreas Kriegenburg versucht den Text mit erprobten Mitteln aus seinem Regiezauber-Fundus zu beleben. Seine Inszenierung vermag jedoch nicht zu überzeugen.

Von Hartmut Krug | 09.02.2013
    Orest und der Pädagoge, der den von seiner Mutter im Wald ausgesetzten Sohn in Korinth erzog und ihn nun in dessen Heimatstadt Argos begleitet, stehen wie zwei clowneske Wandervögel als weiß geschminkte Kunstfiguren mit schwarz gerändert aufgerissenen Augen im hellen Licht da. Noch ist offen, ob Orest in Argos, wo seine Mutter Klytämnestra mit Ägisth nach ihrem Mord an ihrem Mann Agamemnon herrscht, zum Racheengel werden wird. Die beiden Reisenden beteiligen sich pantomimisch und lautmalerisch am kräftigen, über die Szene tönenden französischen Lied:

    Ein schönes Bild, ein toller, hoffnungsfroher Einstieg in die traurige Existenzialismus-Fabel, mit der Jean-Paul Sartre die Orestie des Aischylos umfunktionierte , weg von der Tragödie des Schicksals, hin zu einer Tragödie der Freiheit. Als das Stück im unter deutscher Besatzung stehenden Paris 1943 uraufgeführt wurde, wollte Sartre die Franzosen aus der "Selbstgefälligkeit in der Reue und Scham" holen, die sie unfähig zum Widerstand mache. Trotz Geiselerschießungen durch die Nazis nach französischen Attentaten müsse man diese verüben und zu einer Freiheit der eigenen Verantwortlichkeit stehen. Und als das Stück 1948 in Düsseldorf erstmals in Deutschland aufgeführt wurde, hob Sartre das angeblich positive Gefühl der Verantwortlichkeit gegen das passive der Reue hervor. Heute wird das Stück kaum noch gespielt. Es wirkt in seiner
    Redseligkeit und philosophischen Verblasenheit schon bei der Lektüre arg verstaubt.

    Regisseur Andreas Kriegenburg versucht den Text mit erprobten Mitteln aus seinem Regiezauber-Fundus zu beleben. Seine hochkünstliche Inszenierung ist clownesk, unpsychologisch und körpersprachlich bestimmt und oft musikalisch unterlegt. Es treten Trauerfrauen in schwarz als grell aggressive Elendsgestalten auf, knickebeinig, knochengesichtig, schwarmhaft. Die Menschen, die sich zum befohlenen Ritual des Totenfestes der Reue versammeln, sind seelische und körperliche Krüppel. Sie bilden eine wirr wuselnde Menge aus Schauspielern, Maskenfiguren und schlecht geführten kleinen Puppen. Elektra stürmt im kurzen Unterrock mit blauen Mülltüten auf die Bühne und verschleudert als zu Küchenarbeit verbannte Königstochter heutigen Haushaltsmüll über die Bühne. Worauf eine Gruppe von Menschen, ihre Besen als Luftgitarren nutzend, zum Aufräumen auf die Bühne stürzt. Die überzeugende Sonja Beißwenger spielt die Elektra mit darstellerischer Energie und den Handlungszweifeln ihrer Figur ins Zentrum der Aufführung.

    Doch Kriegenburgs anfangs ästhetisch beeindruckende Bild- und Bewegungsmittel wirken schnell monoton und plakativ. Sie besitzen keine choreographische Form und weder Rhythmus noch Tempo. Etliche Gruppenszenen wirken fast wie hingeschludert, - als habe Kriegenburg, der zur gleichen Zeit an der Dresdner Oper Händels "Orlando" probte, für Sartre nicht die volle Konzentration gefunden.

    Sartres Freiheitsideal der selbstbestimmten und verantworteten Tat, mit dem sich Orest nach dem Mord an Ägist und seiner Mutter von Jupiters Herrschaft lossagt, ist in Zeiten von Terroristen und Selbstmordattentätern, gelinde gesagt, keineswegs unproblematisch:

    "Aber plötzlich ist die Freiheit über mich gekommen (….). Die Natur hat von mir abgelassen und ich hatte kein bestimmtes Alter mehr und ich fühlte mich ganz allein in deiner kleinen glückseligen Welt. (…) Und nichts mehr war im Himmel, weder Gutes noch Böses, noch jemand, der mir Befehle geben konnte."

    Vollkommen in die unfreiwillige Komik misslingt der Schlussakt: Auf Wasser nassen Plastikfolien rutschen die weiß bemäntelten Erinnyen, die sich mit Blut überschütten und Orest mit Blut bespucken, unmotiviert hin und her. An ihrer wilden Bodengymnastik beteiligt sich zunächst die verzweifelte Elektra, bis sie die Tat ihres Bruders bereut und sich in die Obhut von Jupiter begibt. Orest aber tritt selbstbewusst und identisch mit sich vor sein Volk, statt wie bei Sartre in die Fremde zu gehen, und wird, wie der Pädagoge berichtet, vom Volk gesteinigt.

    Trotz dieses Schlusses aber macht uns Kriegenburgs eklektizistisch veräußerlichende Inszenierung nicht recht deutlich, was genau sie uns erzählen will. Und zumindest für den Zuschauer, der Kriegenburgs Arbeiten kennt, ist sie in ihrer ästhetischen Redundanz eine Enttäuschung.