Donnerstag, 18. April 2024

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Treffen der Grünen
"Stärker an der Mitte orientieren"

Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, hat eine Neuausrichtung seiner Partei gefordert. Die Grünen müssten sich stärker Richtung Mitte der Gesellschaft orientieren und einen pragmatischen Kurs verfolgen, sagte Palmer im Deutschlandfunk. Mit dieser Ausrichtung hätten die Grünen in Umfragen lange Zeit zwischen 15 und 20 Prozent gelegen.

Boris Palmer im Gespräch mit Christoph Heinemann | 21.11.2014
    Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingen (Bündnis 90/Die Grünen), aufgenommen am 26.09.2013 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" zum Thema: "Zum Regieren verdammt - in der Not hilft nur Schwarz-Rot?" im ZDF-Hauptstadtstudio im Berliner Zollernhof Unter den Linden.
    Boris Palmer, Oberbürgermeister Tübingen (Bündnis 90/Die Grünen) (picture-alliance / dpa-ZB / Karlheinz Schindler)
    Vor Beginn der Bundesdelegiertenkonferenz in Hamburg verlangte Palmer eine Diskussion über die Grundausrichtung der Grünen. Die Orientierung der Grünen in Baden-Württemberg hin zur Wirtschaft und zur Mitte der Gesellschaft, ohne den Gestaltungsanspruch der Partei aufzugeben, sei erfolgreich, sagte Palmer.
    "Wenn man sich zu weit links einsortiert, endet man irgendwo bei acht Prozent und ist im Bundestag kaum noch bedeutsam." Mit einem pragmatischen Kurs könne man dagegen in Baden-Württemberg auch den Ministerpräsidenten stellen. Zur Diskussion um die Parteispitze sagte Palmer, dort habe es immer zerrüttete Verhältnisse gegeben. Die Parteispitze werde mit unerfüllbaren Aufgaben vertraut. Sie solle verschiedene Flügel, Geschlechter und bestenfalls noch West- und Ostdeutschland repräsentieren. Dennoch solle sie gut zusammenarbeiten. Dies sei ein Strukturproblem.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Mitte Januar feiern die Grünen ihren 35. Geburtstag. Das ist ein Alter, in dem man in Sportvereinen endgültig in die Riege der Jungsenioren eingeteilt wird. Und so kommt auch die Partei inzwischen ziemlich gediegen daher. Ehemalige Straßenkämpfer schätzen längst hübsche Anzüge. Die bekanntesten politischen Turnschuhe der Republik stehen längst im Haus der Geschichte. Heute treffen sich die Grünen in Hamburg, nicht etwa zu einem Parteitag; die Grünen sprechen immer noch von der Bundesdelegiertenkonferenz.
    Vor anderthalb Stunden haben wir Boris Palmer erreicht, den mit sehr großer Mehrheit frisch im Amt bestätigten grünen Bürgermeister von Tübingen. Guten Morgen, Herr Palmer!
    Boris Palmer: Guten Morgen, Herr Heinemann!
    Heinemann: Von Palmer lernen heißt siegen lernen. Werden Sie Ihren Parteifreund(inn)en in Hamburg heute mal erklären, wie es geht?
    Palmer: Na ja, das wäre ein bisschen arrogant. Ich habe eine Kommunalwahl gewonnen und nicht eine Bundestagswahl. Aber, was ich schon glaube ist, dass die Orientierung der baden-württembergischen Grünen hin zur Wirtschaft, hin zur Mitte der Gesellschaft, ohne den Gestaltungsanspruch der Grünen aufzugeben, dass die erfolgreich ist.
    Heinemann: Das heißt, in den Ländern kann es die Partei besser als im Bund?
    Palmer: Nein, das heißt es nicht. Das heißt, dass wir uns über die Grundausrichtung der Partei unterhalten müssen. Das werden wir auf dem Parteitag tun. Und da gibt es eben zwei Grundhaltungen: Die eine ist, die reine Lehre vertreten. Dann hat man gesehen, was bei der Bundestagswahl passiert. Wenn man sich zu weit links einsortiert, dann endet man irgendwo bei acht Prozent und ist im Bundestag kaum noch bedeutsam. Oder aber, man orientiert sich stärker an der Mitte, und mit einem pragmatischen Kurs kann man sehen, dass man in Baden-Württemberg auch den Ministerpräsidenten stellen kann, und bei Umfragen im Bund waren wir mit diesem Kurs auch lange Zeit zwischen 15 und 20 Prozent und ich persönlich möchte da wieder hin.
    Heinemann: Ist die grüne Besserwisserei vorbei?
    Pragmatisch und lösungsorientiert
    Palmer: Nein, das ist sie nicht, denn wir wissen tatsächlich vieles besser.
    Heinemann: Donnerwetter!
    Palmer: So würde ich es ungern stehen lassen. Wir haben als erste Partei erkannt, dass wir dabei sind, mit unserem industriellen Lebensstil die Welt kaputtzumachen, und dass wir das ändern müssen. Und da, finde ich, sollten die Grünen auch drauf beharren, denn da ist im 21. Jahrhundert viel zu tun. Aber es sollte eben nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommen, sondern pragmatisch, lösungsorientiert, auch technikaffin mit der Wirtschaft. Dann haben die Grünen die richtige Rolle gefunden.
    Heinemann: Herr Palmer, im Antrag "Grüner Aufbruch 2017" - das ist ja das Bundestags-Wahljahr - steht folgendes: "Im Bundestags-Wahlkampf" - also im vergangenen – "hatten wir unsere Stärken und Kernthemen vernachlässigt, uns in Detailfragen verzettelt und angreifbar gemacht. Wir waren zu statisch, machtpolitisch haben wir die Sozialdemokratie erneut über- und die Auseinandersetzung mit der Union unterschätzt." Da ist offenbar alles schief gegangen. Wie und mit wem geht’s besser?
    Palmer: Interessant ist, dass diesen Antrag, den Sie gerade vorgelesen haben, auch Jürgen Trittin unterschrieben hat, genauso wie ich,…
    Heinemann: Ihr Parteifreund.
    Palmer: In der Tat: mein Parteifreund. Sie sagen es. - Wir haben das beide unterschrieben und deswegen finde ich den Text auch so gut. Den könnte man zwar deutlicher formulieren, wie die Freunde aus Hessen das getan haben, aber im Kern sagt er, wir brauchen eine Kurskorrektur und das sogar mit der Unterstützung von Jürgen Trittin. Was will man mehr!
    Heinemann: Das Verhältnis zwischen der Parteivorsitzenden, zwischen Simone Peter und Cem Özdemir gilt als zerrüttet. Kann man es mit den beiden besser machen?
    Grüne orientieren sich am Machbaren
    Palmer: Wir hatten eigentlich an unserer Parteispitze immer zerrüttete Verhältnisse. Das liegt daran, dass wir die Leute mit einem unlösbaren Auftrag da hinschicken, nämlich erstens sollen sie die Flügel und die Geschlechter vertreten und dann möglichst auch noch den Osten und den Westen, und zweitens sollen sie völlig harmonisch miteinander arbeiten. Das kann nicht gut gehen. Das halte ich eher für ein Strukturproblem als ein Personalproblem. Und ich finde, dass die Werte von Cem Özdemir auf jeden Fall zeigen, dass er als Parteivorsitzender auch bei der Wählerschaft gut ankommt.
    Heinemann: Muss die Partei an der Spitze einiges verändern?
    Palmer: Ich glaube nicht, dass wir jetzt die Personaldiskussion wieder mal anfangen sollten. Die Parteispitze wurde vor einem Jahr gewählt. Mich interessiert der Kurs, der ist wichtiger. Der Rest folgt daraus.
    Heinemann: Sie gehen in den nächsten Bundestagswahlkampf mit Simone Peter und Cem Özdemir für und gegen alles?
    Palmer: Keine Ahnung, denn wir haben nächstes Jahr wieder Vorstandswahlen. Da kann auch wieder was Neues passieren. Aber dieses Jahr steht das Thema nicht an.
    Heinemann: Herr Palmer, 25 Jahre nach dem Mauerfall verhelfen die Grünen den SED-Erben in Thüringen zum Triumph. Hat das für Sie, wie man in Ihrer Region sagen würde, Geschmäckle?
    Palmer: Für viele Menschen bei uns sicher ja. Da gibt es sehr viele, die sich das nicht vorstellen können, mit der Linkspartei zu regieren. In Baden-Württemberg schon gar nicht, ist auch kein Thema, die sind bei drei Prozent. Aber der Osten ist anders und ich persönlich halte es für richtig, dass die Grünen jeweils die Situation und die politische Lage vor Ort beurteilen und fragen, wie können wir am meisten für unsere Ziele erreichen. Und offensichtlich ist es so, dass das in Ostdeutschland auch mal mit der Linkspartei sein kann. Das finde ich gut, nicht der Sache wegen, aber des Grundsatzes wegen, dass wir Grüne uns immer daran orientieren, was machbar ist. Das kann mal eine Regierung wie in Hessen mit der CDU sein und mal, wie jetzt, eine mit Rot-Rot-Grün.
    Grüne brauchen einen engen Draht zur Wirtschaft
    Heinemann: Die Grünen heißen ja nicht nur Die Grünen, sondern Bündnis 90/Die Grünen. Wie empfinden Sie das, wenn die Bürgerrechtler von damals jetzt den SED-Nachfolgern den Steigbügel halten?
    Palmer: Ich persönlich war ja nicht in der DDR, ich kann das schwer beurteilen. Ich habe mit großem Respekt gehört, was der Bundespräsident dazu gesagt hat. Das verstehe ich, das kann ich nachvollziehen, die Kritik ist einleuchtend. Aber es ist 25 Jahre her und da meine ich auch, dass man das nicht mehr allein nach diesem Maßstab beurteilen darf. Wir können ja nicht mit den Kindern und Enkelkindern darüber streiten, was der Großvater mal in der Stasi gemacht hat, bevor wir uns bereit erklären, über Koalitionen zu verhandeln. Ich finde, da hat die Zeit jetzt auch einen Unterschied gemacht.
    Heinemann: Tarek Al-Wazir, der stellvertretende Ministerpräsident in Hessen, fordert seit Wochen, die Grünen müssten sich stärker als liberale Partei profilieren. Welchen Teil des FDP-Erbes möchten Sie gerne übernehmen?
    Palmer: Insbesondere den engen Draht zur Wirtschaft, und hier meine ich besonders den Mittelstand, der die baden-württembergische Wirtschaft so stark macht. Ich finde, wir sollten die Partei sein, die deutlich macht, die ökologische und digitale Modernisierung, die das 21. Jahrhundert prägen wird, die ist für den Mittelstand eine Riesenchance, und die Grünen schaffen Rahmenbedingungen, damit er sie nutzen kann.
    Heinemann: Was sind denn die Grünen jetzt eigentlich, links, bürgerlich oder machtversessen?
    Palmer: Weder noch. Da gibt es schon eine 30 Jahre alte Antwort eines unserer Gründungsvorsitzenden, Wolf-Dieter Hasenclever: Die Grünen sind weder links, noch rechts, sondern vorne.
    Heinemann: Können Sie sich eines Tages vorne auch eine Koalition mit der AfD vorstellen?
    Palmer: Nein!
    Heinemann: So haben die Etablierten in den 80er-Jahren auch über die Grünen geredet und umgekehrt.
    Palmer: Das mag sein, aber die Grünen waren eine progressiv-gesellschaftsreformatorische Kraft, die viel Neues aufs Tapet gebracht hat, das erst mal nicht verstanden wurde und im Konflikt durchgesetzt werden musste und die Gesellschaft transformiert hat. Die AfD ist eine rückwärtsgewandte Kraft, die zurück dahin will, wo es nicht mehr hingeht, nämlich zur guten alten D-Mark, und ich finde, dass da so viel reaktionäres und rechtskonservatives Gedankengut geäußert wird, dass sich hier die Koalition verbietet. Da gibt es große Unterschiede.
    Heinemann: …, aber erstaunlich erfolgreich!
    Zeit der Farbbeutel ist vorbei
    Palmer: Nein, nicht erstaunlich erfolgreich. Wir hatten in Baden-Württemberg auch schon mal die Republikaner mit zehn Prozent im Parlament. Es gibt einen Anteil in unserer Gesellschaft von Menschen, die für solche Ideen anfällig sind, und es kommt immer mal wieder eine Partei, denken Sie auch an Herrn Schill in Hamburg, die daran appelliert und dann absahnt. Aber ich hoffe, dass sie eben nicht lange Bestand haben werden.
    Heinemann: Herr Palmer, beim Asylkompromiss, als drei Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsländern erklärt wurden, ist die Bundespartei über Winfried Kretschmann hergefallen, der dem zugestimmt hat. Da funktioniert der alte Kampfmodus noch?
    Palmer: Das war nicht die Bundespartei, das waren einzelne Mitglieder der Bundestagsfraktion. Das ist nicht dasselbe. Er hat auch Unterstützung aus der Bundespartei bekommen. Aber dies ist einer der zentralen Punkte auf unserem Parteitag: Wie ist zu bewerten, dass Baden-Württemberg aus Regierungsverantwortung heraus diesem Kompromiss zugestimmt hat? Meine Meinung ist: Nachdem wir als Grüne in der Regierung mit Gerhard Schröder die wesentlichen Verbesserungen für Asylbewerber in sieben Jahren nicht durchgesetzt haben, Geldleistungsprinzip statt Sachleistungsprinzip, Bewegungsfreiheit im Land, die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme - diese Punkte hat Winfried Kretschmann jetzt in einer Nacht durchgesetzt -, besteht kein Grund, ihn zu kritisieren.
    Heinemann: Sollte Herr Kretschmann extra Wechselwäsche nach Hamburg mitnehmen für den Fall tief fliegender Farbbeutel?
    Palmer: Nein! Ich bin mir sicher, dass die Farbbeutel-Zeit vorbei ist und dass sie bei Winfried Kretschmann auch niemanden in der Partei finden, der Farbbeutel auf ihn werfen würde.
    Heinemann: Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister von Tübingen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Palmer: Ich danke Ihnen! Schönen Tag.
    Heinemann:
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.