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Treffen in Straßburg

Otts zweiter Roman "Endlich Stille" handelt von einer fatalen Begegnung zwei ungleicher Menschen. Ein Philosophie-Professor trifft im Straßburger Bahnhof auf einen heruntergekommenen Mann. Plötzlich steht der Lebensentwurf des Dozenten auf dem Spiel.

Von Ulrich Rüdenauer | 30.03.2005
    "Aber dann war ich diesem Menschen am Ausgang des Straßburger Bahnhofs begegnet, genauer gesagt, wir waren bereits auf dem Bahnsteig nebeneinander hergegangen, die Treppen hinab, die Treppen hinauf und durch die Eingangshalle immer noch nebeneinanderher, als gehörten wir zusammen, und als wir am Portal vor dem weiten, kahlen, von keinem Baum gesäumten Platz standen und wie auf eine choreografische Anweisung hin die Koffer im gleichen Augenblick abstellten und geradeaus starrten, als müßte jeder von uns einen Plan fassen, fragte er mich: ‚Suchen Sie auch ein Hotel?‘"

    "Endlich Stille" heißt der zweite Roman des 1957 in Ehingen bei Ulm geborenen Dramaturgen und Autors Karl-Heinz Ott. Er handelt von einer eigentümlichen Begegnung, die das Leben auf dramatische Weise verändert und nach der absurden Logik eines Alptraums funktioniert. Otts Ich-Erzähler, ein Philosophie-Professor und Spinoza-Kenner aus Basel, macht am Straßburger Bahnhof die Bekanntschaft eines heruntergekommenen, vom ersten Augenblick an sehr leutseligen Mannes. Besser: Diese Bekanntschaft wird ihm aufgezwungen. Das ungleiche Paar landet schließlich in einem Restaurant.

    "Übrigens, ich heiße Friedrich Grävenich‘, stellte sich mein Tischgenosse vor und erklärte, ohne in die Karte zu schauen, er nehme das gleiche wie ich, nur Fisch möge er nicht."

    Von Beruf ist Friedrich Grävenich, das zumindest behauptet er, Klavierdozent. Alle Distanzierungsversuche des Erzählers prallen an der Penetranz und am Mitteilungsdrang des fremden und gleich sehr vertraulich tuenden Mannes ab. Das Zusammentreffen hat etwas Schicksalhaftes. Der Ich-Erzähler und Philosoph, der nicht nur beruflich über jene These Spinozas nachsinnt, "die besagt, dass solche Menschen, die glauben frei zu sein, sich täuschen", lernt eine frappierende Lektion in Sachen Willensfreiheit.

    "Zum ersten Mal im Leben war ich mit einem Wesen konfrontiert, das keine instinktive Distanz kannte."

    Der Abend mit Friedrich Grävenich löst jede Privatsphäre auf. Als ob er den Erzähler schon Jahre kennte, vertraut er ihm Intimstes an, berichtet von der Zeit in einem streng katholischen Internat, von seinem Eremiten-Dasein in Lothringen, einer geheimnisvollen Zürcher Prostituierten, die aus Kamerun stammt, von Schubert und Scarlatti, kurz: Er redet über Gott und die Welt, ohne auf sein Gegenüber Rücksicht zu nehmen. Ob all diese Geschichten wahr sind oder vielleicht Friedrich Grävenich nur wahrhaftig erscheinen, lässt sich kaum beurteilen. Im Lauf der Zeit werden jedenfalls Zweifel an der Glaubwürdigkeit des ungebetenen "Freundes" geweckt. An diesem ersten Abend gelingt es dem zunehmend in Panik verfallenden Philosophen, die Flucht zu ergreifen.

    Friedrich hat im Erzähler eine Unsicherheit erzeugt, die ihm bereits innewohnte und ihn fortan aus seiner angestammten Bahn zu tragen droht. Er macht sich in höchster Bewusstseinsnot aus dem Staub, verlässt Straßburg Hals über Kopf und hinterlässt eine falsche Adresse und Telefonnummer. Einige Zeit später aber meldet sich Friedrich Grävenich am Telefon, und alle Ausreden, Ausflüchte und Versteckspiele bewahren den Erzähler nicht vor einem weiteren Kontakt. Grävenich taucht in Basel auf, quartiert sich schließlich sogar in der Wohnung des völlig konsternierten und in Schreckstarre handlungsunfähigen Philosophieprofessors ein, dem keine Theorie mehr hilft und auch nicht seine vernünftige Ex-Freundin Marie. Sie bringt wenig Verständnis für die Probleme des in Not Geratenen auf.

    "Niemandem, so nahe er mir auch sein mag, werde ich diese Geschichte je mitteilen können, doch die Last dieses Geheimnisses gibt mir vielleicht zum ersten Mal im Leben das Gefühl, erwachsen zu sein."

    Eine zunehmende Verwahrlosung setzt ein, der Alltag besteht aus der immergleichen Routine: Ritualisierte Besäufnisse sind die einzige Möglichkeit, das Aufgezwungene zu ertragen. Der Ruf des Dozenten leidet zunehmend unter seinem Besucher. Durch eine zufällige Begegnung scheint sein Lebensentwurf auf dem Spiel zu stehen.

    "Wie damals nachts in Straßburg mäanderte ich jetzt am hellichten Tag in einem Labyrinth umher, das nirgends einen Ausgang bereithalten wollte."

    Der Ausgang aus dem Labyrinth besteht in einem gewaltig-gewalttätigen Befreiungsakt, der zugleich das Dilemma das Erzählers vor Augen führt: Wie wird man ohne Gesichtsverlust mit dem Einbruch eines chaotischen Moments in die rational scheinende Realität fertig, wenn keine seelische Ordnung genügend Widerstandskraft entwickelt? Das Schlimme ist nicht der Fremde, der auch das Fremde im eigenen Selbst verkörpert. Er ist lediglich der Auslöser für die Zweifel an der eigenen Standfestigkeit. Man muss sich neu erfinden, um die Gespenster und Schatten - und nichts anderes ist das komisch undurchsichtige Wesen Friedrich - loszuwerden. Auch um den Preis eines Verbrechens, wenn es notwendig sein sollte. Am Ende gewinnt der Erzähler eine neue, ungeahnte Kraft zurück, Ergebnis aus Wut und Verzweiflung. Er führt Friedrich ins Gebirge, in unwegsames Gebiet, und lässt ihm den Vortritt in den Abgrund, in den der Erzähler zweifelsohne gestürzt wäre, hätte er noch länger das nervtötende Spiel auszuhalten versucht. Endlich herrscht Stille.

    "Vor allem habe ich darüber gestaunt, wie schnell alles gehen kann, ohne daß die Welt sich verändert, ohne daß die Felsen ins Wanken geraten, ohne daß sich das Gesicht der Sonne verwandelt, ohne daß in mir alles zu beben beginnt. Ich stand da und war gleichzeitig ein anderer."

    Otts Schreiben spiegelt die innere Rasanz dieser fatalen Begegnung, nimmt die sich verändernde Intensität der Bekanntschaft auf, und das alles in einer durchdachten, wenig aufgeregten Sprache, die das Rationale nahe an das Absurde heranführt. Das Buch bildet durchaus die Qual ab, die den Erzähler angesichts seines nicht mehr abzuschüttelnden Gastes befallen haben muss - es zieht sich hin, und auf vielen Seiten denkt man: Befreie dich doch endlich von diesem aufdringlichen Menschen! Dann aber gewinnt die Handlung erneut an Fahrt, der Text wechselt den Rhythmus, wie auch die Gefühle des Erzählers immer wieder ihre Färbung wechseln. Karl-Heinz Ott hat aus der Plot-Konstruktion heraus seine Form entwickelt - und einen Ton, der hinter dem umgänglichen Charakter des Erzählers eine verborgene Welt anklingen lässt. Das ist eine bedrohliche Welt, die sich nach ganz eigenen Gesetzen ordnet - und kaum noch beherrschbar ist.

    "Noch bevor es geschah, glaubte ich bereits zu spüren, daß ich unangreifbarer denn je geworden bin. Alles wird bleiben, wie es war: Ich werde meine Vorlesungen halten, in meiner Mansarde abends bei offenem Fenster Jacques Brel hören, mit Marie gelegentlich essen gehen, bei meinen Studenten als sympathischer Professor gelten und bei niemandem den Argwohn erregen, hinter meinem unkompliziert wirkenden Wesen könnte sich eine ganz andere Welt verbergen. Dennoch wird alles sich ändern, und es wird auch im Umgang mit allen anderen zum Tragen kommen, selbst wenn es niemand
    bemerkt."

    Karl Heinz Ott: "Endlich Stille"
    Hoffmann & Campe Verlag