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Treibhäuser des Wandels

Die Schulreformen Hamburg und Berlin haben heftige Debatten ausgelöst, die bundesweit wahrgenommen wurde. Erziehung und Bildung in der Stadt ist auf der ganzen Welt ein Thema. Unter dem Titel "Urban Education" jedenfalls tagen in Berlin rund 2000 Erziehungswissenschaftler aus ganz Europa.

Von Bettina Mittelstrass | 15.09.2011
    "Es gibt eine Diskussion um 'Urban Education' in den Vereinigten Staaten und da geht es hauptsächlich um die Frage der Heterogenität in modernen Gesellschaften, die sich natürlich in Städten in ganz besonderer Weise abbildet, und die Frage, wie ein Bildungssystem auf Heterogenität reagieren kann, gerechte Bildungschancen anbietet, Integrationschancen anbietet und natürlich auch ein Entwicklungspotenzial nutzt, das mit Heterogenität gegeben ist."

    Und das passt zu Berlin, sagt der Erziehungswissenschaftler Professor Harm Kuper von der Freien Universität, der dort die Jahreskonferenz der European Educational Research Association organisierte.

    "Es gibt ganz besondere Entwicklungsprobleme für Schulen oder Entwicklungsaufgaben für Schulen in städtischen Umfeldern, die etwas damit zu tun haben, dass Schulen untereinander konkurrieren, dass Schulen sich in neuen, äußeren Schulstrukturen sich einfinden müssen, mit ihrem jeweiligen Angebot sich profilieren müssen, und dass Schulen natürlich auch intern es zu tun bekommen mit sehr, sehr heterogenen Schülerschaften."

    Welche Schulformen auf kulturell heterogene Schülerschaften und ihre Leistungen im europäischen Vergleich wie wirken, erforscht seit vielen Jahren der Niederländer Jaap Dronkers, Professor am Research Centre for Education and the Labour Market der Universität Maastricht. Er wertet dafür die Daten der PISA-Studien sehr genau aus.

    "Ich wollte wissen, welche Effekte Bildungssysteme haben auf die Bildungsnoten von Schülern mit Migranten-Background. Das ist einfach das Problem. Und die Idee war: Vielleicht haben sie nicht die gleichen Effekte wie für einheimische Schüler?"

    Dronkers Auswertung betätigten seine Vermutung: Im finnischen Bildungssystem zum Beispiel schneiden die Schüler laut PISA-Studien im Durchschnitt zwar am besten ab. Aber bei genauerer Betrachtung stimmen die Querschnittsdaten immer nur für einheimische Schüler.

    "Mit den Migrantenschülern ist das nicht so. Und hier kommt etwas Schweres: Das ist nur nicht so, wenn man das Geburtsland von den Migrantenschülern in die Analyse einführt. Wenn man das nicht tut und nur sagt: Migranten oder nicht Migranten, dann schneidet immer Finnland besser aus. Aber Finnland hat nur Russen oder Schweden. Das ist einfach. Das sagt nicht, dass Finnland es falsch tut, aber: Man überschätzt den guten Effekt Finnlands. Man überschätzt den guten Effekt von dem Comprehensive-System für die Schüler mit Migranten-Backgound, und das ist dann der Grund von diesen Studien."

    Menschen mit anderer Herkunft, sagt Jaap Dronkers, sind gegenüber Einheimischen keine homogene Gruppe. Ethnische Diversität ist in den europäischen Ländern und vor allem Großstädten keine immer gleiche Größe an sich.

    "Und wenn man europäische Länder vergleichen wollte - und das wollte ich, das ist interessant, wir wollen voneinander lernen - soll man das auch in Kauf nehmen.
    Ein schwarzes Teil von dieser Auskunft ist, dass das Land von der Geburt wichtiger ist für den Bildungsresultate als das Land der Bestimmung."

    Ein unbequemes Ergebnis, wie der Wissenschaftler erfahren musste. Denn welche bildungspolitischen Konsequenzen zieht man daraus?

    "Wenn man mit diesen Resultaten kommt, ist man inmitten von einem politischen Streit. Und man wird gebraucht von den Linken und von den Rechten."

    Jaap Dronkers hofft dennoch, dass Schulreformen die empirischen Daten nicht einfach ignorieren.

    "Es ist sehr wichtig, dass wir nicht nur idealistisch beschreiben, wie es sein sollte und wie schön das allemal wäre, wenn wir dieses oder das tun, aber zuerst beschreiben, wie es funktioniert, mit Daten belegt, mit guten Daten belegt, um realistisch idealistisch zu sein."

    Mit empirischen Daten arbeiten auch Schweizer Wissenschaftler zur Lehrerbildung und stellten auf der Berliner Konferenz Ergebnisse vor. Was müssen Lehrer - gerade im Brennpunkt Großstadt - mitbringen, um kulturell heterogen zusammengesetzten Schülerschaften gut gewachsen zu sein? Erfahrung mit internationalem Austausch schon im Studium, so eine Antwort, die inzwischen in vielen Ländern auch in der Lehrerbildung immer prominenter wird. Die Zahlen der Studierenden, die eine gewisse Zeit ins Ausland gehen, steigen - auch in der Schweiz. Aber ergibt sich daraus tatsächlich ein Mehrwert für den Lehrerberuf?

    "Man weiß recht genau, was so ganz pauschal internationaler Austausch bringen kann im Sinne von allgemeiner Persönlichkeitsentwicklung, im Sinn von Spracherwerb. Man weiß noch nicht so viel, was diese spezifischen Kompetenzen für Lehrpersonen sind, die tatsächlich dann hilfreich sind, in einem international gewordenen Schulfeld auch aktiv tätig zu sein."

    Professor Bruno Leutwyler, Leiter des Instituts für internationale Zusammenarbeit in Bildungsfragen an der Pädagogischen Hochschule Zentralschweiz in Zug.:

    "Wir haben eigentlich mit unseren Daten zeigen können, dass die verbreitete Annahme, Studierende ins Ausland zu schicken und dann würden sie quasi ganz automatisch eine produktive Entwicklung machen, dass dem nicht so ist. Es braucht Voraussetzungen, bestimmt Voraussetzungen auf Seiten der Studierenden, aber auch der Programmgestaltung, es braucht eine Begleitung, es braucht spezifische Möglichkeiten, wie sie auch angeleitet werden, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, damit sie wirklich einen berufsspezifischen Nutzen auch davontragen."

    Nicht nur die Schüler sind in urbanen Zusammenhängen anders gemischt, nicht nur die Lehrer erwarten dort andere Herausforderungen als auf dem Land. Auch die Eltern spielen im Stadtraum für die Bildung eine andere Rolle. Wo das Bildungsangebot hoch ist, steigen die Wahlmöglichkeiten. Eine erziehungswissenschaftliche Pilotstudie an der Universität Potsdam in Kooperation mit der Technischen Universität Berlin fragte nach den Kriterien für die Schulwahl der Eltern an vier Schulen in einem Berliner Bezirk beim Schulwechsel ihrer Kinder nach der 6. Klasse. Anne Jurczok von der Universität Potsdam:

    "Da spielen auch so diese Gedanken - Was möchte ich meinem Kind zumuten an Nachbarschaft? Und mit was für Mitschülern soll es überhaupt in einem Klassenraum sitzen? - eine viel größere Rolle als es auf dem Land tatsächlich auch so vorhanden ist."

    Und dann ist da noch der "Ruf" einer Schule, schnell geprägt durch Nachbarschaft im Stadtteil. Im Ergebnis gestalten Bildungsentscheidungen damit auch die Großstadt, weil sie zu sozialen Dynamiken innerhalb von Nachbarschaften und Stadtteilen führen. Idealerweise versuchen Bildungsreformen ungleichen Entwicklungen entgegenzuarbeiten. Aber die Pilotstudie zur Schulwahl in Berlin zeigt, dass das nicht immer so klappt, wie erwünscht:

    "Letztendlich merkt man schon, dass diese Heterogenität, die auch angestrebt wird, zum Beispiel durch dieses längere gemeinsame Lernen und die Zusammenlegung von verschiedenen Schultypen, eigentlich konterkariert wird, wenn Eltern versuchen nun, durch ihre Schulwahl eine Schule zu suchen, die ihrem sozialen Milieu entspricht."

    Kuper:

    "Wir sehen das gerade an diesen Vorgängen wie in Hamburg, auch in Berlin, dass die Entscheidungen und teilweise auch der Protest der Bevölkerung natürlich Einfluss nimmt auf die Realität unseres Schulwesens, unseres Bildungswesens im Allgemeinen. Und das sind natürlich zivilgesellschaftliche Bewegungen, die in einem sehr viel höheren Maße verdichtet in Städten erfolgen. Ich glaub manchmal, also das hat schlicht und ergreifend etwas damit zu tun, dass die Menschen hier dichter aufeinandersitzen."