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Trendwende
Mehr afghanische Ortskräfte dürfen nach Deutschland

In Afghanistan arbeiten sogenannte Ortskräfte als Dolmetscher, Wächter oder Projektmitarbeiter für die Bundeswehr und das deutsche Entwicklungsministerium. Viele werden wegen ihrer Arbeit für die Bundesregierung bedroht und stellen deshalb Ausreiseanträge. Bislang scheiterte ein Großteil - doch in den vergangenen Monaten hat sich das geändert.

Von Christoph Heinzle | 09.02.2016
    Afghanischer Helfer im Gespräch mit Bundeswehrangehörigem.
    Afghanischer Helfer im Gespräch mit Bundeswehrangehörigem: Viele ehemalige Ortskräfte werden in Afghanistan bedroht. (dpa/picture alliance/Can Merey)
    Mal drohten die Taliban per Brief, mal am Telefon, mal habe ein vermummter Kämpfer vor der Tür gestanden, berichten afghanische Ortskräfte immer wieder. Über 1.800 aktive und ehemalige Mitarbeiter der Bundeswehr, des Auswärtigen Amtes, des Entwicklungs- und Innenministeriums haben deshalb eine sogenannte Gefährdungsanzeige gestellt. Doch bislang hatte die Mehrheit schlechte Chancen. Lediglich 40 Prozent der Antragsteller bekamen bis Juli vergangenen Jahres Aufnahmezusagen.
    Doch seitdem hat sich der Trend umgekehrt: 68 Prozent erhielten in den letzten sieben Monaten einen positiven Bescheid, ergaben Berechnungen von NDR Info auf Grundlage offizieller Zahlen aus dem Bundesinnenministerium. Bernd Mesovic von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl erkennt darin einen "erfreulichen Realismus", der aber bedeute, dass sich "trotz militärischer Intervention kein Sicherheitsstandard" in Afghanistan habe halten lassen und sogar die ehemaligen Mitarbeiter zunehmend gefährdet seien. Und die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Luise Amtsberg, sieht in der Zunahme der Aufnahmezusagen eine "positive Entwicklung", die aber leider mit der erhöhten Gefährdungslage in Afghanistan zusammenhänge.
    Bundesinnenministeriums: "Jede Gefährdungsanzeige wird sorgfältig und individuell geprüft"
    Die Bundesregierung allerdings bleibt auf die Frage nach den Gründen der Trendwende vage. So schreibt ein Sprecher des federführenden Bundesinnenministeriums: "Jede Gefährdungsanzeige wird sorgfältig und individuell geprüft. Liegt eine Gefährdung vor, erhält die Ortskraft eine Aufnahmezusage. Insofern kann es von Monat zu Monat zu Schwankungen in der Anzahl der Aufnahmezusagen kommen." Einen Zusammenhang mit der verschlechterten Sicherheitslage stellt das Innenministerium im Gegensatz zu Pro Asyl und Grünen nicht her. Kaum verwunderlich. Denn nach Lesart des Ministers ist Afghanistan ja gar nicht so unsicher. "Es gibt Gegenden, die sind deutlich sicherer als man gemeinhin annimmt - etwa im Norden, da wo wir Verantwortung tragen", betonte Thomas de Maizière erst vergangene Woche in Kabul.
    Einschätzung der Lage in Afghanistan
    Verantwortlich für die Trendwende bei den Ortskräften ist vor allem die Entscheidungspraxis im Bereich der Bundeswehr. In den vergangenen sieben Monaten gab es hier in 92 Prozent aller geprüften Fälle Aufnahmezusagen, bis Juli 2015 waren es lediglich 37 Prozent. Praktisch keine Veränderung gibt es dagegen im Bereich des Bundesentwicklungsministeriums, wo weiterhin fast zwei Drittel aller Anträge abgelehnt werden. Das gilt auch für die bisher größte Welle von Gefährdungsanzeigen bei der staatlichen deutschen Entwicklungsorganisation GIZ. Nach der vorübergehenden Einnahme von Kundus durch die Taliban Ende September hatten dort 43 afghanische GIZ-Mitarbeiter die Ausreise beantragt, nur ein Drittel bekam aber laut Innenministerium Aufnahmezusagen.
    Die Grünen-Abgeordnete Amtsberg, äußerte darüber im Gespräch mit NDR Info Unverständnis: "Die Taliban machen keine Unterscheidung, ob man bei der GIZ oder der Bundeswehr tätig ist." Die Differenz zwischen Verteidigungs- und Entwicklungsministerium sei "ganz, ganz besorgniserregend und logisch nicht zu erklären, sondern deutet eher darauf hin, dass man sich da nicht ausreichend um die Sicherheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kümmert." Auch Bernd Mesovic von Pro Asyl zeigte sich verwundert: "Ich habe das Gefühl, dass die Lage im Bereich des Bundesentwicklungsministerium noch nicht ganz ernstgenommen wird."