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Triumph bei Reichtagswahl

Mit 110 von insgesamt 397 Abgeordneten wurde die Partei der industriell-gewerblichen Arbeiterschaft bei der Reichstagswahl vom 12. Januar 1912 stärkste Kraft im Parlament. Ein später Triumph für die unter Bismarck geächteten und inkriminierten Sozialdemokraten.

Von Almut Finck | 12.01.2012
    4.250.000: Nie zuvor hatte die SPD, nie zuvor hatte überhaupt eine einzelne Partei so viele Stimmen erhalten wie bei der Reichstagswahl vom 12. Januar 1912. Mit 110 von insgesamt 397 Abgeordneten wurde die Partei der industriell-gewerblichen Arbeiterschaft stärkste Kraft im Parlament.

    Ein Triumph für die unter Bismarck geächteten und inkriminierten Sozialdemokraten, wenn auch ein später. Denn schon bei der Reichstagswahl 1890 war die SPD von allen Parteien die stimmenstärkste gewesen, mit 35 mageren Sitzen allerdings nur fünftstärkste Fraktion. Der Grund für diese eklatante Verzerrung der Kräfteverhältnisse:

    "Das Wahlrecht des Kaiserreichs war ein absolutes Mehrheitswahlrecht, in sogenannten Ein-Mannwahlkreisen."

    Der Historiker Andreas Biefang, Mitarbeiter der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien.

    "Gewählt wurde, wer innerhalb eines bestimmten Wahlkreises die Mehrheit erzielt hatte."

    Alle anderen Stimmen fielen unter den Tisch.

    "Die SPD war im Kaiserreich auch dadurch benachteiligt, dass die Wahlkreiszuschnitte den ländlichen Raum bevorzugt haben. Das hängt mit dem Prozess der Urbanisierung zusammen."

    Großstädtische, stark bevölkerte Wahlkreise, die Hochburgen der SPD, stellten ebenso nur einen einzigen Abgeordneten wie jene auf dem Land, die im Zuge der Industrialisierung mehr und mehr an Population verloren. Wie gelang es der SPD 1912 dennoch, die Zahl ihrer Mandate signifikant, wenn auch immer noch disproportional zum Stimmenanteil zu erhöhen? Im Reichstag 1871 noch mit gerade mal zwei Abgeordneten vertreten, beherrschte sie die parlamentarischen Spielregeln mittlerweile erstaunlich gut. Dazu zählten: geschickte Wahlbündnisse mit anderen Parteien, falls kein Kandidat in einem Wahlkreis die absolute Mehrheit erzielte und Stichwahlen notwendig wurden.

    "Stichwahlen konnte gewinnen, wer die Wähler anderer Parteien herüberzog. Die SPD, obwohl eigentlich als Klassenpartei gestartet, hat sehr früh begonnen, Wahlabsprachen, meistens mit den Liberalen, gelegentlich auch mit dem Zentrum, zu treffen, das zeigt, dass sie von ihrer Fundamentalopposition schon sehr früh in einigen Punkten abgewichen ist."

    Auch wenn sie vor dem Urnengang wenig konziliant mit den politischen Gegnern umgegangen war. Etwa dann, wenn es um die enorm gestiegenen Brotpreise und Lebenshaltungskosten ging, zentrales Thema bei den Wahlen 1912, auch Hungerwahlen genannt. Ursache waren Schutzzölle, die der heimischen Wirtschaft dem Ausland gegenüber Vorteile bringen sollten.

    "Wie der Schatzsekretär den Schnapsblock, so verteidigt der Reichskanzler die Zollwucherer","

    schimpfte die SPD auf den überparteilichen Theobald von Bethmann-Hollweg - und die konservativen Blockparteien im Parlament.

    ""Nieder mit den Junkern! Nieder mit den Scharfmachern! Nieder mit den im Gewande der Frömmigkeit herumschleichenden Volksbetrügern! Wer von seiner Hände, seines Kopfes Arbeit leben muss, wähle am 12. Januar den Kandidaten der Sozialdemokratie!"

    Mehr als jeder dritte Wahlberechtigte folgte dem Rat. Reichskanzler Bethmann-Hollweg berief dennoch keinen einzigen Sozialdemokraten in sein Kabinett. Wilhelm II. hätte das nötige kaiserliche Plazet nie gegeben. Aber: Gegen den "Arbeiterkaiser" August Bebel und seine Mitstreiter war im nun 13. deutschen Reichstag eine Mehrheitsbildung auch nur schwer möglich.

    "Insofern war der Wahlerfolg der SPD in den Reichstagswahlen 1912 ein fundamentales politisches Ereignis, nicht nur für die SPD selbst, sondern auch für die politische Geschichte und das politische System des Kaiserreichs."

    In den zwei Jahren bis 1914 kam es zwar zu keiner institutionalisierten Zusammenarbeit zwischen der SPD und den benachbarten Fraktionen, von Bündnissen der Stunde abgesehen: So unterstützte die SPD 1913 eine Erhöhung der Militärausgaben und gab ihr oppositionelles Prinzip des "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen" auf. Ein Jahr später aber sorgte der Erste Weltkrieg für die endgültige Integration der einst vaterlandslosen Gesellen ins politische System. Ende Juli hatte das Parteiblatt "Vorwärts" die Genossen noch gewarnt:

    "Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter missbrauchen."

    Wenige Tage später stimmte die SPD-Fraktion im Reichstag geschlossen den von der Regierung geforderten Kriegskrediten zu.