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Triumphe des Augenscheins

Das Werk ist so umfassend und sperrig wie sein Gegenstand. Rund dreißig Jahre, sein ganzes Forscherleben, hat der Geograph Dietmar Henze der Aufgabe gewidmet, alle seit Beginn der Geschichtsschreibung bekannten Entdeckungsreisen zu beschreiben. Entdeckungsreisen werden von Entdeckern gemacht, und so hat sich Henze entschlossen, ihre Geschichte als die ihrer Helden darzustellen. Seit 1970 hat er ausschließlich an seiner "Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde" gearbeitet.

Von Tobias Gohlis | 17.02.2005
    Je nach Arbeitsfortschritt erschienen seitdem Teillieferungen zu je 128 Seiten, die regelmäßig die Begeisterung der Fachkreise weckten. Waren nach einigen Jahren um die 800 Seiten zusammengekommen, wurden sie zu einem Band gebunden. Jetzt liegen fünf Bände mit mehr als 3600 Seiten im Lexikonformat abgeschlossen vor, und der erschöpfte Verfasser hat seine Fachbibliothek zum Auktionator gebracht. Mehr als 4000 Bücher Reisebeschreibungen und Landeskunde kamen im Herbst 2004 in Köln unter den Hammer.

    Doch nicht einmal in den vorliegenden fünf schwerleibigen Bänden ist alles erfasst. Dietmar Henze, der diese gewaltige Arbeit meist allein bewältigen musste, hat sich auf die Zeit bis Ende des 19. Jahrhunderts beschränkt, beschränken müssen. Bedauernd konstatiert er, dass die Erforschung der Pole oder des Trans-Himalaja nicht mehr beschrieben werden konnten; auch das bereits für den vierten Band angekündigte topographische Register konnte nicht realisiert werden.

    Dies fehlt um so schmerzlicher, weil die Enzyklopädie strikt alphabetisch aufgebaut ist. Was das bedeutet, zeigt ein Blick auf die ersten drei Artikel im ersten Band, die die Entdecker Alaga, Abargues de Sostén und Abbadie behandeln. Der Inder Alaga erforschte 1879 als Geometer im Auftrag des indischen Vermessungsoffice den Oberlauf des Irawadi in Birma, der Spanier Abargues 1880 Abessinien und der Ire Abbadie teilweise gemeinsam mit seinem Bruder zwischen 1838 und 1845 das Hochland Äthiopiens.

    Der Aufmarsch der Entdecker in alphabetischer Ordnung gewährleistet Vollständigkeit, macht aber die Angelegenheit keineswegs übersichtlicher. Wer sich beispielsweise in die Entdeckungsgeschichte Birmas vertiefen will, muss sich über Querverweise von dem bereits erwähnten indischen Geometer Alaga im ersten über den Eintrag zu J. E. Sandeman im vierten Band, von dort weiter zu Henri d’Orléans im dritten zurück zu Kishen Sing im ersten Band voran arbeiten. Doch die Reise durch die Bände lohnt sich. Samt ihren Umwegen.

    Schritt für Schritt hat Henze die jeweilige Entdeckerleistung, den ihr geschuldeten Zugewinn an Gelände-, Raum-, und Menschenkenntnis vermerkt.
    Die biographischen Angaben zu Prinzen, Vermessungsbeamten, Seeleuten, Missionaren, Journalisten oder Gentlemen hat er knapp gehalten. Denn dem Verfasser kommt es nicht auf die exotischen oder bizarren Details an, von denen so mancher Lebenslauf nur so strotzt, sondern auf die geographische Leistung. Henzes Helden sind Diener der Weltkunde und als solchen hat er ihnen mit der Enzyklopädie ein "Denkmal" gesetzt. Der Umfang der einzelnen Artikel reicht von der bloßen Erwähnung eines Reisebegleiters oder Kapitäns in vier Zeilen bis zu gewaltigen Aufsätzen.

    Einer der umfangreichsten Beiträge geht in detailliertem Für und Wider der Frage nach, ob der berühmte Venezianer Marco Polo tatsächlich in China war. Henze kommt nach 370 Seiten Beweisführung zu dem Schluss:

    Seine ganze lange vorgegebene Reise ist der kolossalste Schwindel der globalen Entdeckungsgeschichte.

    Im einzelnen beweist er durch philologische Vergleiche und geographische Abklärung, dass Marco Polos "Buch der Wunder", die vielleicht einflussreichste Reisebeschreibung der Geschichte, nicht auf dem Augenschein des Berichterstatters beruhte, sondern eine Kompilation diverser Dokumente und Berichte war. Henze klärt, so weit möglich, deren Ursprung, und arbeitet so das Idealbild des Entdeckungsreisenden heraus: Es ist der Forscher, der das Neue selbst gesehen und betreten, vermessen oder kartographiert hat.

    Man mag einwenden, dass dieser positivistischen Betrachtungsweise der kulturelle Ballast entgeht, den die Entdecker mit sich herumschleppten und der sie oft genug in die Irre führte. Auch interessiert Henze sich wenig für die militärischen, politischen und kulturellen Umstände, unter denen die Entdeckungen stattfanden. Der Fall des portugiesischen Vizekönigs von Ostindien, Afonso de Albuquerqe, der die 1507 eroberten Städte in Oman gleich nach ihrer Erforschung wieder niederbrennen ließ, bildet eine eher seltene Ausnahme der Darstellung. Selbstbewusst betont Henze den "abendländischen Gesichtswinkel" seiner Enzyklopädie:

    Die von Europa ausgehende Schau hat als einzige konsequent den ganzen Erdball erschlossen, und das jahrtausendenlange Ringen um die geistige Einbeziehung aller Erdräume in eine einzige große Linse, die europäische, ist ein Phänomen, das unsere ungeteilte Aufmerksamkeit verlangt.

    So selbstbewusst das Vorwort zum zweiten Band.

    Über dem ganzen liegt ein Hauch von Neunzehntem Jahrhundert. Nicht nur die damalige Leidenschaft für das Messen und Vergleichen teilt Henze, sondern auch die jugendliche Begeisterung an der Tilgung letzter weißer Flecken von der Erdkarte, die die Forscher ins Unbekannte trieb. Aus der liebevollen Akribie, mit der er noch die geringste Entdeckerperson würdigt, spricht das Fernweh des kleinen Jungen, der alle diese Reisen am liebsten selber gemacht hätte. So gibt Henze seinen Protagonisten gerne ausführlich (und in den Originalsprachen) das Wort und wählt aus ihren Berichten die Passagen aus, die vom Triumph persönlicher Erd-Anschauung künden. So zitiert er den deutschen Afrikaforscher Richard Kandt, der 1898 eine der letzten unbekannten Nilquellen gefunden hatte, im Augenblick des höchsten Glücks:

    Sie entspringt nicht als sprudelnder Quell aus dem Boden, sondern verlässt einen kleinen feuchten Kessel am Ende einer Klamm Tropfen nach Tropfen, so dass es mich Zeit genug kostete, einige Flaschen ihres Wassers für mich zu sammeln.

    Henzes Enzyklopädie der Entdecker ist in ihrer altmodischen Beharrlichkeit ein Solitär der Geographiegeschichte. Leider ist das Werk, das nur als Ganzes vernünftig gelesen werden kann, mit einem Preis von über 1700 Euro unerschwinglich, die Abwesenheit von Registern und Kolumnentiteln erschwert zudem die Orientierung. Meine Bitte an die Forschungsstiftungen, die Henzes Arbeit über die Jahrzehnte mit etlichen hunderttausend Euro unterstützt haben: Finanziert auch noch die Digitalisierung dieser Enzyklopädie, damit sie preisgünstig allen Lehnstuhlreisenden zur Verfügung gestellt werden kann. Sie hat ein größeres Publikum verdient.