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Tschechien
Neubeginn im Bergbau-Revier

Bergbau, Schwerindustrie und die Luft so schlecht, dass sie mit dem Messer zu schneiden ist: das ist die eine Seite von Ostrava. Die drittgrößte Stadt Tschechiens hat aber auch eine Kehrseite und die ist um einiges freundlicher: Kunst, Kultur und kühne Ideen.

Von Kilian Kirchgeßner | 31.10.2014
    Die Reise in die Vergangenheit führt weit unter die Erde: Ein alter Gruben-Aufzug rattert hinunter in den Schacht Anselm, mitten im Bergbau-Revier von Ostrava. Eine Schulklasse fährt unter Tage – sie sollen sehen, worin der einstige Reichtum der Region bestand. Petr Danninger fährt mit ihnen ein, er ist um die 60 Jahre alt und erzählt inmitten des Trubels von früher.
    "Der eigentliche Abbau der Kohle war lange Handarbeit. Da vorne seht ihr eine lebensgroße Puppe in dem schmalen Gang liegen – so haben die Jungs früher die Kohle abgebaut. Ein Zweiter hat sie auf die Rutsche gelegt und so zu den Waggons befördert, in denen die Kohle dann ans Tageslicht gefahren worden ist."
    In Betrieb ist Schacht Anselm schon lange nicht mehr, genauso wenig wie die meisten anderen Kohlengruben in Ostrava. Die Arbeit lohnt sich schlicht nicht mehr. Von den früher 120.000 Bergarbeitern sind heute gerade einmal noch 20-25.000 übrig.
    Festival für experimentelle Musik
    Zugleich entsteht in der Region aber Neues; der Strukturwandel ist in vollem Gange. Weniger Schwerindustrie, mehr Forschung; weg von den Gruben, hin zur Kultur. Die alte Bergbaustadt hat sich zur mitteleuropäischen Hauptstadt für Neue Musik entwickelt. Alle zwei Jahre findet in Ostrava ein Festival für experimentelle Musik statt, zusätzlich gibt es eine Biennale der Neuen Oper und Workshops für Künstler aus aller Welt. Dahinter steckt Petr Kotik – der Musiker ist 72 Jahre alt und zählt zu den führenden Köpfen der Neuen Musik. Sein Lieblingskomponist ist der US-Amerikaner John Cage, dessen Werk er in Ostrava auf die Bühne gebracht hat.
    "Wir haben das Festival mit einer Oper von John Cage eröffnet. Zum ersten Mal überhaupt ist sie bei uns so aufgeführt worden, wie sie gedacht war – in einem klassischen Theater. Woanders wäre das nicht möglich gewesen! Stellen Sie sich vor, John Cage im Prager Nationaltheater - undenkbar! Die hätten uns in Prag irgendwo in eine Industrieruine am Rand der Stadt verwiesen!"
    Neue Musik in den heiligen Hallen der Prager Kultur – undenkbar, fürchtet Petr Kotik. Um Ostrava zu entdecken, musste der Dirigent zunächst seine Heimat verlassen: In den 60er Jahren flüchtete der Dirigent und Flötist aus der Tschechoslowakei und ging ins Exil in die USA, wo er zunächst in Buffalo landete. Nach der Wende kehrte er immer häufiger zurück in seine tschechische Heimat und gründete schließlich in Ostrava das Zentrum für Neue Musik. Warum gerade dort, im tiefsten Osten des einst sozialistischen Landes? Petr Kotik denkt kurz nach.
    "Ich hatte nie eine Beziehung zu Städten. Mein Bezug zu bestimmten Orten – sei es zu Prag, zu New York, zu Rio de Janeiro oder zu Ostrava – besteht immer aus Kontakten zu Leuten, die dort leben und arbeiten, die den Ort so gestalten wie er ist. Ostrava erinnert mich in vielen Punkten an Buffalo: Hier wie dort gibt es keinen Provinzialismus. Wissen Sie, was ich meine? In vielen großen Städten wie Prag, Berlin oder Boston, da treffen Sie diesen Provinzialismus an – diese Attitüde vieler Bewohner, die von sich und ihrer Stadt Gott-weiß-was denken. Ostrava denkt aber gerade nicht Gott-weiß-was von sich."
    Unvorstellbare Molche unter Tage
    Diese Unaufgeregtheit der Stadt, gepaart mit ihrer Offenheit für Neues – das sei es, was Ostrava ausmache, sagt Petr Kotik. Zu seinen Festivals reisen Besucher aus aller Welt an, selbst aus Amerika kommen jedes Mal Gäste.
    Für Petr Denninger indes ist die Vergangenheit immer noch lebendig. Dass die Gruben heute schließen, sei völlig unnötig, schimpft er. Ob er sich wieder für den Bergbau entscheiden würde, wenn er noch einmal jung wäre?
    "Die Arbeit war immer schlecht bezahlt. Das, was wir da unter Tage gemacht haben, das ist eine unvorstellbare Maloche. Wer das nicht erlebt hat, der kann sich das überhaupt nicht vorstellen."
    Für ihn war der Job trotzdem eine Art Berufung. Vier, fünf Mal im Monat geht er noch heute ins Bergbau-Museum, und fährt wieder ein in die Grube. Zumindest als Museum hat die Schwerindustrie hier im Osten Tschechiens eine Zukunft.