Dienstag, 16. April 2024

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Tschechisch-deutsche Vermischungen
Unterwegs im böhmisch-bayerischen Grenzland

Das tschechische Grafenried – oder Lucina, wie es nach 1945 hieß - ging 1707 an das Königreich Böhmen. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs vertrieb man die deutschen Einwohner und riss ihre Häuser ab – wie in vielen anderen Dörfern im Grenzgebiet auch. Nun macht sich ein bayerischer Maurer daran, auszubuddeln, was übrig geblieben ist.

Von Franz Lerchenmüller | 08.02.2015
    Wo die Wiesen zu Ende gehen und der Dschungel anfängt, begann früher das Dorf. Genau da, wo sich jetzt Erlen, Brombeergestrüpp und Haselnussbüsche zu einem wüsten Gewirr verhaken, melkte man früher Kühe, machte sich fein für die Kirche und stritt mit den Nachbarn. Nichts ist mehr davon da - Grafenried mit seinen einst 41 Häusern ist vom Erdboden verschwunden. Geht man allerdings den Weg weiter, lichtet sich plötzlich das Unterholz und man staunt: Zwischen freigelegten Grundmauern steht ein Mann mit einer Schaufel in der Hand und legt gerade eine Pause ein. Helmut Roith ist wieder bei der Arbeit – da, wo einmal eine Brauerei stand.
    "Also was man jetzt hier sieht, sind nur noch Mauern. Die Brauerei ist 1924 stillgelegt worden und da sind die Geräte wahrscheinlich zuvor verkauft worden. Wir wissen den Stand 1945, da ist es nur eine Ruine gewesen, nicht mehr benutzt worden."
    Grafenried – Lucina, wie es nach 1945 hieß - wurde im 13. Jahrhundert erstmals erwähnt. Es war unter der Herrschaft wechselnder Herrn, ging 1707 an das Königreich Böhmen und wurde 1930, wie eine Chronik verrät, von "231 deutschen, vier tschechischen und zwei ausländischen" Personen bewohnt. Dann kamen die Nazis. Nach Kriegsende 1945 vertrieb man die deutschen Einwohner und riss ihre Häuser ab – wie in vielen anderen Dörfern im Grenzgebiet auch. Und nun geht also einer daran, auszubuddeln, was übrig geblieben ist.
    "Wir haben also 2011 mit der Kirche innen begonnen. Nachher haben wir den Pfarrhof gemacht. 2013/'14 haben wir den Gasthof freigelegt und jetzt diese Brauerei. Das Gelände hat schon einen Umfang... zwei Hektar wird das schon haben."
    Jedes Wochenende setzt sich der 54-jährige Maurer aus dem deutschen Waldmünchen ins Auto, fährt über die Grenze und macht sich, manchmal mit einem Helfer zusammen, ans Werk. Er hat nicht in Grafenried gelebt und hat auch sonst keine Verbindungen dahin. Warum dann steckt er so viel Arbeit in dieses ungewöhnliche Projekt?
    "Aus Liebe. Zur Geschichte. Ich bin sehr geschichtsinteressiert, ich interessiere mich auch für regionale Geschichte, und vor allem hier in Grafenried, weil das etwas ganz Altes ist."
    Besonders freut er sich, wenn Besucher vorbeischauen. Oder wenn er etwas Ungewöhnliches aus der Erde buddelt.
    "Belohnung ist immer, wenn Leute kommen. Wir bekommen da sehr viel Lob. Wir haben jetzt hier in der Brauerei das Wasserbecken aus dem 16. Jahrhundert gefunden, da schlägt das Herz schon höher, muss ich sagen. Flaschen und altes Geschirr noch, es ist manchmal auch ein Rätselraten, weil man nicht weiß, was ist das gewesen und wie hat das funktioniert."
    Katka Karl-Brejchová, die Reiseführerin, ist ganz in der Nähe aufgewachsen und kennt das Gelände noch aus Kindertagen.
    "Die Romantik von diesen Orten, das war sehr prägend"
    "Wir haben als Kinder Zeltlager in diesen Grenzregionen verbracht. Viele von unseren Nachtwanderungen oder unseren Schatzsuchen führten in diese verfallenen Dörfer oder verfallenen Kirchen. Wir haben einfach drin gespielt, ohne sich großartige Gedanken darüber zu machen, was ist das, wo befinden wir uns. Es war wild bewachsen. Es war sehr schlecht zugänglich, aber die Romantik von diesen Orten, das war sehr prägend."
    Das "Oberzentrum" der Region heißt Domazlice. Jeden Abend im Sommer ist hier der Nachtwächter unterwegs – Sondereinsatz für die Touristen.
    Links und rechts des lang gezogenen Marktplatzes reihen sich Renaissance-Fassaden in Altrosa, Lindgrün und Hellgrau. In den Arkaden darunter findet man Geschäfte. Vieles hat sich verändert, seit die Reiseführerin in den 1980er-Jahren hier zur Schule ging.
    "Früher, wenn die Geschäfte um 17 Uhr geschlossen haben, war die Stadt leergefegt. Also da war wirklich keine Menschenseele mehr auf der Straße. Und seit ein paar Jahren, vielleicht sechs, sieben Jahren, gibt es hier am Stadtplatz sehr viele Cafés mit Vorgärten und die Stadt lebt auch nach dem Ladenschluss."
    Alles ist neu? Nein, nicht alles – ein paar feste Größen sind geblieben.
    "Ich erinnere mich an einen Laden, der heißt Ural, also ganz wunderbarer kommunistischer Laden für einen Delikatessenladen. Und ich bin immer wieder erfreut: Diesen Laden gibt es heute immer noch. Diesen wunderbaren Mayonaisesalat und alle Konditoreiprodukte. Die gibt es hier nach wie vor in diesem Laden. Ural!"
    Domazlice war und ist die Hochburg der Choden. Sie waren Bauern, die direkt dem König unterstellt waren und die Grenze zu sichern hatten. Dafür durften sie jagen und mussten keinen Frondienst leisten. Nach und nach entwickelte sich eine ganz eigenständige Kultur daraus. Die Choden sprachen einen eigenen Dialekt und hatten eine besondere Tracht: Die Männer gefielen sich in schwarzen Mänteln, die Frauen trugen farbenprächtige Kleider mit großblumigen Mustern. Auch eine eigene Musik entstand – vor allem mit dem Dudelsack.
    Doch die Freiheit der Choden währte nicht ewig. Immer wenn der König in Geldnöte geriet, verpfändete er das Land seiner Untertanen, erzählen Katka und der Autor Gerd Burger, der sich intensiv mit ihrer Geschichte beschäftigt hat.
    "Nach der Schlacht am Weißenberg 1620 kam ein neuer Herr – der Laminger, oder Lomikar genannt, ein bayrischer Adliger, ein katholischer Adliger. Und der übernahm das ganze Chodengebiet und hat natürlich versucht, aus den Choden Frondienste zu pressen.Das hat aber den freiheitsbewussten Choden gar nicht gefallen und die haben angefangen zu rebellieren."
    Und vielleicht trafen sie sich ja genau in der niedrigen Stube im Hof des Bauern Jan Sladky in Ujezd, den sie zu ihrem Anführer machten. Möglicherweise saßen sie auch genau an jenem klobigen Tisch, an dem die Besucher sich heute niederlassen.
    "Das ist ein Tisch noch aus dem 17. Jahrhundert. Der Tisch hat in dem Familienleben einen besonderen Stellenwert gehabt. Wenn es gebrannt hat, wurde der Tisch als erstes rausgetragen. An dem Tisch durfte nichts anderes gemacht werden als nur gegessen werden."
    Und deshalb scheint es auch genau der richtige Tisch, um den Kolace aufzuschneiden. Der runde chodische Kuchen aus Hefeteig, Quark, Zwetschgenmus und Mohn ruft bei Katka die schönsten Erinnerungen wach.
    "Man muss erst den Teig anmachen. Dann muss man warten, bis der Teig fertig ist. Dann muss man es durchkneten, man muss es genau abwiegen, dann muss man die Quarkmasse anmachen, Powidln muss man anmachen, den Mohn. Dann steht man den ganzen Tag in der Küche, wo ein Kuchen nach dem anderen gebacken wird. Wir haben damals immer so 30 Stück davon an einem Tag gemacht."
    Fehlt nur noch etwas Musik. Kein Problem. Wo zwei Chodenfrauen aufeinandertreffen, wird auch gesungen.Doch zurück ins Jahr 1620, als das Chodenland einen neuen Herrn bekam, aus Bayern, Lomikar genannt, der Profit machen wollte und..
    "...der nämlich daran ging, ganz zielstrebig, das Maximum rauszupressen aus dem neuen Land, auch durch frühe Industrie, also Eisenhämmer Hochöfen, Textilmanufaktur, dazu mussten natürlich Wälder gerodet werden, dazu brauchte es Arbeiter, und wer sollte das sein? Natürlich seine Leibeigenen. Und diese Bauern, diese Choden, haben angefangen zu rebellieren. Und als Machtzeichen hat er dann den chodischen Anführer Jan Sladky Kozina hinrichten lassen."
    Aber nicht nur die Bauern waren gut für melancholische Geschichten. In Schloss Ronsperg, Pobezovice, blättert die Farbe von der ockerbraunen Fassade. Hierher brachte im Jahre 1896 der Diplomat Heinrich Coudenhove-Kalergi seine japanische Ehefrau Mitsuko, die er vier Jahre davor in Tokio geheiratet hatte. Er war 33, sie 18 – und eine der ersten Japanerinnen überhaupt, die nach Europa kamen.
    "Für die Frau hieß es natürlich: Schwierige Bedingungen in Europa. Nur Japanisch sprechend. Kein Wort Deutsch, kein Wort Englisch, kein Wort Tschechisch. Nur mit ihrem Mann reden könnend, zwei kleine Kinder habend, und dann noch sechs weitere bekommend, in diesem sicher sehr schönen Schloss in Böhmen, aber halt völlig in der Fremde lebend."
    Dann starb ihr Mann sehr früh, mit 50, sie war 38. Sie hatte wenig Sprachkenntnisse, musste sich um die acht Kinder kümmern und von da an auch noch um das Schloss und die Ländereien. Am Ende zog sie verbittert nach Wien und starb dort in hohem Alter. Während ihrer Ehe mit Heinrich aber wurde Schloss Ronsperg zu einem geistigen Zentrum in der böhmischen Provinz. Sohn Richard, der später die paneuropäische Union gründen sollte, erinnert sich an fast babylonische Verhältnisse – mit dem Unterschied, dass man sich verstand.
    "Der japanischen Hausfrau stand eine ungarische Gesellschafterin zur Seite, eine tschechische Malerin führte sie in die europäische Malkunst ein. Der Kammerdiener meines Vaters war Armenier, an der Spitze des Sekretariats stand ein Bayer. Zu den Tischgenossen zählten unsere Gouvernanten, eine Engländerin und eine Französin, oft auch der türkische Lehrer meines Vaters, ein mohammedanischer Albanese. Mein Vater sprach mit meiner Mutter immer japanisch, türkisch mit seinem Kammerdiener. Uns gab er persönlich Stunden im Russischen und im Ungarischen. So war Schloß Ronsperg eine Oase kosmopolitischer Geister – mitten in einer Welt, die immer stärker von Nationalismus besessen war."
    Es war jener Nationalismus, der soviel Unglück über Europa bringen sollte. Und der letztendlich auch die Ursache war, dass Hunderttausende von Menschen vertrieben wurden - und im Grenzland ganze Dörfer vom Erdboden verschwanden.