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Tschechows "Iwanow" am Residenztheater München
Schwäche kann grausam sein

In dem Stück "Iwanow" zeichnete Anton Tschechow das Bild einer Gesellschaft, die in der Erstarrung verharrt und deren Ende schon sichtbar ist. Für Regisseur Martin Kusej nutzt die Vorlage, um sich mit Depression und Burnout in postkapitalistischen Zeiten auseinanderzusetzen. Die Inszenierung am Residenztheater München offenbart aber auch Schwächen.

Von Rosemarie Bölts | 05.06.2016
    Das Residenztheater in München.
    Das Residenztheater in München. (imago )
    Schwäche kann grausam sein. Iwanow ist schwach. Taumelt, redet wirr, kriegt nichts mehr auf die Reihe, nimmt nichts mehr wahr, ist nur noch zynische, ausgebrannte Hülle. Als adliger Gutsherr im ausgehenden 19. Jahrhundert gehört er einer Gesellschaft an, die in der Erstarrung ausharrt. Dekadent und schwindsüchtig. Iwanows Ehefrau flüchtet sich gendergerecht hustend in Krankheiten, und seien sie psychosomatisch. Iwanow selber bringt sich standesgemäß, auch gendergerecht, zum Schluss mit der Pistole um. Dazwischen tauchen die Protagonisten einer frühkapitalistisch aufscheinenden Zukunft auf: soziale Aufsteiger wie die zu Geld gekommenen Lebedjews oder die jung verwitwete Erbin Babakina. Proleten wie der junge Gutsverwalter Borkin, der pausbackig und mit Berliner Schnauze zwar etwas beschränkt, aber unverdrossen als pummeliger Tanzbär über die Bühne scharwenzelt. Und zwischen diesen Welten die wohl ausgestattete Tochter der reichen Aufsteiger Lebedjew, die romantisch verklärt an die Kraft der alles heilenden Liebe glaubt:
    "Jeder jungen Frau gefällt eher der Pechvogel als der Glückspilz. An ihm lockt die tägliche Liebe, verstehst du? Tätige Liebe!"
    Soweit das Tableau, das Tschechow tatsächlich als "Komödie" beabsichtigt hatte, aber nach der gefloppten Erstaufführung 1887 zum "Drama" umdichtete. Verheißungsvolle Vorlage für heute, die da meint: Depression und Burnout in postkapitalistischen Zeiten. Den Spagat zwischen individueller Schwäche und gesellschaftlichem Korsett will auch Regisseur Martin Kusej zeigen. Das lässt er nicht nur in den modischen Anzug- und Schluppenblusenvarianten inklusive schwarzer Lederjacke und Boots für den Gutsverwalter vorführen. Das spiegelt auch die klaustrophobische Leere des Bühnenbilds. Ein gleißend weißer, hoher Raum mit nichts als einer sehr großen Doppeltür, die zu bleibt. Mit schräger Raumdecke über dem rechteckigen Boden, auch hier nichts Geordnetes, Intaktes mehr. Geschlossene Gesellschaft, mal aseptisch clean, mal in diffus graugrünem Licht kaputt und mit irre viel Staub bedeckt, je nachdem, ob man sich in der musealen Vergangenheit oder in der Zukunftsvariante aufhält. Kein Tisch, an dem man gemeinsam sitzt, keine Requisiten, an denen man sich festhalten könnte. Nur zwanzig – antike - gepolsterte Stühle, die dermaßen quer herumstehen, dass, egal, ob beim Kartenspiel oder beim Streit, jeder für sich bleibt. Man redet aneinander vorbei oder gleich irgendwohin ins Leere. Beziehung ist unmöglich. Kommunikation auch.
    "Unsere ganze Geschichte war, Sascha, ein Haufen leerer Worte! Er ohne Moos, ohne Boden unter den Füßen. Sie jung, kräftig, schön. Sie reicht ihm die Hand. In deinem billigen Roman ist das vielleicht die schöne Wahrheit, aber im Leben, nein, im Leben nicht!"
    Leere, Erschöpfung, Lebensüberdruss, das artet bei Kusejs Inszenierung in marthalerischer Langatmigkeit aus. Der übergroße ennui. Immer wieder: lange Pausen, langes Schweigen, langer Stillstand, sodass selbst dem bildungsbürgerlichen Münchner Publikum der Kragen platzte, und es: "Begriffen! Weiter!" rief. Das passte allerdings wiederum unfreiwillig zu den boulevardesken Elementen dieser Inszenierung, die den Spagat zwischen aufgesetzter Fröhlichkeit und deprimierendem Nihilismus symbolisierten.
    Schau-Spiel wird hier sehr wörtlich genommen: hängende Schultern, torkelnde Männer, klammernde Frauen, huschende Schmarotzer. Klischees, die deutlich sagen, was nicht mehr geht. Nur, dicke Schnute und dünnes Stimmchen passen nicht unbedingt zusammen, auch wenn der Regisseur vielleicht meint, Ermattung müsse sich in leisem Sprechen ausdrücken. Was man aber schon nicht mehr in der fünften Zuschauerreihe versteht, erhöht nicht die Spannung, sondern lähmt die Aufmerksamkeit.
    Am Ende weiß man nicht, was der Regisseur mit seinem großartigen Ensemble der Schauspielkunst eigentlich sagen will. Körperausdruck, Bühnenbild, Licht, alles wichtig, und hier alles gut. Sprache aber birgt Spannung und transportiert sie. Sonst fehlt der Tiefgang. Schwäche kann grausam sein.