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Tschernobyl
Wanderung durch eine Geisterwelt

Seit 1993 hat der Fotograf Gerd Ludwig immer wieder die Menschen besucht, die von der Explosion des Atomkraftwerks Tschernobyl 1986 direkt oder indirekt betroffen waren. Die großformatigen Bilder in seinem Buch "Der lange Schatten von Tschernobyl" zeigen ihre Trauer und Hoffnungslosigkeit.

Von Dagmar Röhrlich | 14.07.2014
    Das Denkmal für die Helden und Feuerwehrleute von Tschernobyl in der Ukraine.
    Das Denkmal für die Helden und Feuerwehrleute von Tschernobyl in der Ukraine. (picture alliance / dpa)
    Wesnowa in Weißrussland, im Jahr 2005. Der Fotograf Gerd Ludwig fokussiert seine Kamera auf einen kleinen, schielenden Jungen mit viel zu großem Oberkörper, der auf dem Boden kauert und die Falten einer Gardine anstarrt.
    "Der fünfjährige Igor ist körperlich behindert, geistig zurückgeblieben, emotional geschädigt, taub und stumm. Isoliert und ängstlich verbringt er die meiste Zeit versteckt hinter einer Gardine in einem Kinderheim."
    Es ist eine Momentaufnahme von vielen in Gerd Ludwigs Bildband "Der lange Schatten von Tschernobyl". Seine großformatigen Fotografien machen betroffen. Sie fangen die Angst und Hoffnungslosigkeit der Kranken ein, die Trauer der Hinterbliebenen und die Armut und Isolation der Alten, die lieber in der Sperrzone sterben als in den Trabantenstädten. Ihnen allen hat Gerd Ludwig sein Buch gewidmet:
    "Im Gedenken an Tschernobyl und angesichts der Situation im Kernkraftwerk Fukushima nach dem Erdbeben in Japan halten uns diese Fotos vor Augen, dass Unfälle im Ausmaß von Tschernobyl zum Wesen der Kernkraft gehören und sich überall und jederzeit wiederholen können."
    Die Zeit heilt solche Wunden nur langsam
    Seit er 1993 für die renommierte Zeitschrift "National Geographic" zum ersten Mal nach Tschernobyl reiste, hat Ludwig die Katastrophe und ihre Folgen immer wieder mit der Kamera dokumentiert. Damals fotografierte er Wartende im tristen Gang irgendeiner Behörde: Sie hoffen auf Anerkennung als Opfer. Ihre Gesichter sind trübe, ihr Leben scheint schon hinter ihnen zu liegen. Ein anderes Bild von damals:
    "Alexander Nekajew, 51, half nach der Explosion seinen Kollegen, Ventile zu öffnen und stand dabei knietief im radioaktiv verseuchten Wasser. Er erlitt so schwere Verbrennungen, dass sein linkes Beim amputiert werden musste."
    All diese Bilder wirken düster. Doch fast noch schmerzlicher sind die Fotografien, die Ludwig bei späteren Besuchen aufgenommen hat. Denn gleichgültig, ob die Betroffenen wegen der direkten Strahlung erkrankt sind, ob sie unter psychischen Belastungen leiden oder unter dem Zusammenbruch der Gesellschaft: Diese Bilder belegen, dass es viele Menschenalter braucht, um eine atomare Katastrophe zu überwinden. Die Zeit heilt solche Wunden nur langsam – oder gar nicht:
    "Lesnoir Weißrußland, 2005: Der 16jährige Dima ist an Lymphdrüsenkrebs erkrankt und verbrachte bereits mehrere Monate in einer Klinik, die für krebskranke Kinder und Jugendliche in Minsk mit Unterstützung Österreichs gebaut wurde."
    Im Bauch des Ungeheuers
    2011 besuchte Gerd Ludwig das Innere des Sarkophags, der den explodierten Block 4 umgibt. Hier entstanden auch die Bilder der Treppe, die zum sogenannten Elefantenfuß führt, den geschmolzenen Massen, die wie Lava aus dem Reaktorkern geflossen waren.
    "Bei mehreren Gelegenheiten drang ich tief in den Bauch des Ungeheuers vor. Zuerst erreiche ich mit meinem Begleiter den Kontrollraum, wo die todbringenden Fehler unterliefen. Schemenhaft wie ein Gespenst begegnet uns ein Arbeiter zum Auftakt unserer Wanderung durch eine Geisterwelt, in der ich Angst und Grausen erlebe."
    Verstörend sind auch die Bilder aus Pripyat, der Stadt, die damals innerhalb weniger Stunden evakuiert wurde. 2007 öffnete die Ukraine die Sperrzone für Besucher und mittlerweile wird diese Gegend mehr und mehr zur Kulisse für Touristen, die den Nervenkitzel einer anhaltenden Katastrophe suchen:
    "Seit Reiseunternehmen erkannt haben, wie attraktiv Schutzmasken für fotografierende Touristen sein können, wurden immer mehr Masken dekorativ montiert. Hier schart sich eine Gruppe Studenten der finnischen Aalto-Universität um eine von der Decke baumelnde Gasmaske."
    Vorwort von Michail Gorbatschow
    Gerd Ludwig stellt aus all diesen Momentaufnahmen einen einfühlsamen Bildband zusammen, zu dem der ehemalige sowjetische Staatspräsident Michael Gorbatschow ein kurzes Geleitwort geschrieben hat:
    "Tschernobyl hat mir wie kein anderes Ereignis die Augen geöffnet: Es zeigte mir die furchtbaren Folgen der Kernkraft, selbst wenn sie zu nichtmilitärischen Zwecken genutzt wird. Man konnte sich jetzt viel deutlicher vorstellen, was passieren könnte, wenn eine Atombombe explodierte. Nach der Meinung vieler Experten könnte eine SS18-Rakete hunderte Tschernobyls enthalten."
    Für Michael Gorbatschow war Tschernobyl ein Wendepunkt - so wie es für viele andere ein Vierteljahrhundert später die Katastrophe von Fukushima werden sollte.
    Gerd Ludwig: "Der lange Schatten von Tschernobyl"
    Edition Lammerhuber, 252 Seiten, 75 Euro