Aus den Feuilletons

Die tödliche Straßenbahn

04:20 Minuten
Eine alte Straßenbahn fährt durch Lissabons Altstadt.
Im Gedankenxperiment "Trolley-Problem" muss ein Straßenbahnfahrer eine existenzielle Entscheidung treffen. © imago-images / VWPics / Edwin Remsberg
Von Arno Orzessek · 09.10.2020
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In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" wird das "Trolley-Problem" erörtert, bei dem man eine Entscheidung über Leben und Tod fällen muss. In Zeiten von Triage-Debatten wegen der Coronapandemie nicht nur eine "philosophische Grille", so die "FAZ".
Die TAGESZEITUNG geriert sich bekanntlich auch schon mal als besserwisserisches Weltverbesserungsorgan mit moralischem Spitzenhäubchen und Aggro-Attitüde gegen Andersdenkende. Aber darüber hat sie die Ironie nicht verlernt, wie man etwa an der netten kleinen Kolumne "Dafür wurde die taz nicht gegründet" erkennt.

Melania Trumps Gesundheitszustand

In aktuellen Fall heißt das, dass die TAZ nicht gegründet wurde, um anlässlich der Coronainfektion von Melania Trump zu schreiben:
"Während um den Ehemann großes Tamtam herrschte, ist der Zustand von Melania Trump unbekannt. Da auch ihr Ehemann kein Wort über ihren Gesundheitszustand verlor und es sonst niemand macht: Liebe Melania Trump, gute Besserung!"
Das ist ein feiner feministischer Zug, geschätzte TAZ! Und natürlich auch eine Erfüllung des Jesus-Appells: "Liebet eure Feinde."
In einem, zugegebenermaßen nur subtilen, Zusammenhang mit dem Covid-Ausbruch bei den Trumps steht der Artikel "Leben und Sterben lassen" in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Kai Spanke denkt über das sogenannte "Trolley-Problem" nach, das im Kern um die alte Frage kreist: Wann ist es gerechtfertigt, Menschenleben zu opfern, um Menschenleben zu retten?

Utilitaristen sind in der Mehrheit

Durchgespielt wird das Ganze am Beispiel eines Straßenbahnfahrers, der sich entscheiden muss, durch Ausweichen aufs Nebengleis einen Menschen oder durch Kurshalten deren fünf totzufahren.
Sie finden, das sei leicht zu entschieden - der eine müsse dran glauben, nicht die fünf? Nun, dann gehören Sie zu jenen Utilitaristen, die auch der FAZ-Autor Spanke erwähnt:
"Interessant ist, dass die Befragten der meisten westlichen Nationen das Trolley-Problem utilitaristisch lösen würden, wobei genau diese Bürger in der Regel die Menschenwürde und andere Grundrechte hochhalten. Aber wie fiele ihr Urteil aus, wenn es sich bei der Person auf dem Nebengleis um eine junge Mutter von drei Kindern, bei den fünf anderen Leuten aber um herzkranke Covid-19 Patienten im Rentenalter handelte? Gerade jetzt, da die Triage-Richtlinien mancher Länder beunruhigende Aktualität erhalten, ist das Trolley-Problem mehr als eine philosophische Grille."

John Lennons gute und schlechte Seiten

Mehr als eine popkulturelle Grille ist das Gedenken an John Lennon, der nun 80 Jahre alt geworden wäre, hätte ihn nicht vor 40 Jahren ein verwirrter Attentäter niedergeschossen.
Unter dem Titel "Oh, Yolo" zeichnet Joachim Hentschel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG anhand guter und schlechter neuer Lennon-Bücher gute und schlechte Seiten des alten Beatles nach und endet zärtlich-spöttisch:
"Natürlich hätten wir ihn gern als weisen Pferdeschwanzgreis mit 80, der in Talkshows Boomern wie Millennials ordentlich übers Maul fährt. Aber die Möglichkeit, dass er längst mit dem Segelboot Richtung Bermuda abgerauscht wäre, sich heute hauptamtlich der Makrameekunst widmen und ab und zu für ein Filmteam über Beatles-Zeiten und die Revolution schwadronieren würde, ist fast noch größer. Und auch dieser Lennon fehlt. Shine on, geliebter Wirbelsturmkopf."
Hach, wie rührend: der SZ-Autor Hentschel. Zurück in die reale Gegenwart.

Lewitscharoffs Kritik an ihren Kollegen

"Worüber schreiben in hochpolitischen Zeiten und wie?", fragt mit Blick auf die US-Wahl und Corona die Tageszeitung DIE WELT. Und es antworten von T. C. Boyle über Salman Rushdie und Richard Ford bis Juli Zeh allerlei Wortkunstschaffende. Nicht sehr artig äußerst sich Sibylle Lewitscharoff.
"Ich halte nichts von Schnellschüssen der Schriftsteller, auf eine aktuelle Lage zu reagieren, zumindest nicht in einem demokratisch regierten Land wie dem unseren. Das ist eindeutig Sache der Journalisten, die können das ungleich besser. Wenn sich etwas zuspitzt, mascheln sich manche Schriftsteller gern als Politschwätzer auf, und das ist fast immer Käse, ein ziemlich löchriger obendrein."
Ja, in unserer WELT-Ausgabe steht wirklich "mascheln". Keine Ahnung, was das bedeutet - der Kontext legt so etwas wie 'aufblasen' nahe.
Zum Schluss: ein weiteres Lob für die TAZ. Neben dem großen Foto eines halb vollen Weißweinglases gedenkt Doris Akrap all der Gläser, die sie auf der Frankfurter Buchmesse leider nicht leeren kann - die Messe ist ja dieses Jahr ins Netz abgewandert. Herrlich weißweinselig klingen Akraps Worte, die Überschrift indessen verbreitet das Aroma von Tränen, schnief, schnief.
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