Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Deutsche Erstaufführung
Berührende Adaption von "4.48 Psychose"

Sarah Kane beschrieb in ihrem Theaterstück "4.48 Psychose" psychotische Zustände, unter denen sie selbst litt. Die musiktheatralische Adaption des britischen Komponist Philip Venables wird erstmals in Deutschland aufgeführt - eine sensible Umsetzung von Kanes Text an der Semper Zwei in Dresden.

Von Von Elisabeth Richter | 29.04.2019
    Sarah Maria Sun in der Inszenierung der Oper "4.48 Psychose" an der Semper Oper in Dresden
    Der Komponist Philip Venables hat in seiner Opern-Adaption von 2016 die Seelenzerfleischung von Sarah Kane auf sechs Frauenstimmen verteilt (Semperoper Dresden/Ludwig Olah)
    "Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust" – nicht nur Goethes Faust, sondern jeder kennt den Widerstreit von Gefühlen. Bei der 1999 freiwillig aus dem Leben geschiedenen britischen Dramatikerin Sarah Kane liefern sich in ihrem kurz vor ihrem Tod fertig gestellten Theaterstück "4.48 Psychose" jedenfalls mehr als nur zwei Seelen bittere Kämpfe.
    Der Komponist Philip Venables hat in seiner Opern-Adaption von 2016 die sprachlich virtuose Seelenzerfleischung auf sechs Frauenstimmen verteilt. Dazu kommt vom Band eine Sprechstimme. Nicht gesprochene Texte – meist ein Dialog zwischen Patientin und Therapeut - werden außerdem auf Wände projiziert. Zwei Frauen – die der Komponist als Besetzung ausdrücklich fordert - begleiten auf Schlaginstrumenten den Rhythmus des Textes.
    "4.48 Psychose" – das sind Selbstgespräche, Anklagen, Gedankenfetzen, Hasstiraden, Erinnerungen, Sehnsüchte, Träume, Auflistungen von Medikamenten, Körperzuständen, Krankenblatteinträgen, Testergebnissen und mehr. Körper und Geist finden hier nicht zueinander.
    4:48 Uhr - der Moment, wenn die Medikamente nachlassen
    Theater- und Opernfassung bestehen aus 24 Szenen. 4:48 Uhr beschreibt Sarah Kane in ihrer Psychose als den "Glücksmoment, wenn die Klarheit vorbeischaut". Um diese Uhrzeit lasse die Wirkung einer Medikamentendosis fast vollständig nach, und die Einnahme der nächsten Dosis stehe noch bevor. Es seien Momente größter Klarheit, aber auch größter Verzweiflung. Mediziner bestätigen, dass zu dieser nächtlich-morgendlichen Stunde die Suizid-Gefährdung sehr hoch sei.
    Die sechs Sängerinnen haben in "4.48 Psychose" keine Namen. Ihre Stimmen sind kunstvoll polyphon verwoben, Worte, Fetzen, Buchstaben folgen zuweilen aufeinander wie das Rattern von Maschinengewehren. Sie überlagern sich, sie singen zart, poetisch und traurig oder mit sich aufbäumender, grausamer Brutalität.
    Stephan von Wedel gestaltet die Bühne als dunklen, schwarzen Seelenraum, im hinteren Teil, hinter einem durchsichtigen Vorhang spielen zwölf Instrumentalisten, auf den Vorhang wird hin und wieder das Video einer Frau auf einem Bett geworfen, die sich in unruhigem Schlaf oder Wachtraum quält. Vorne agieren die sechs Frauen, in der Mitte ein Sofa, auf dem sie zuweilen wie Laokoon und seine Söhne untrennbar verschlungen aneinander gekettet sind, um sich im nächsten Moment voneinander zu lösen und in den Raum zu stieben.
    In den Momenten der größten Aggression lässt Regisseur Tobias Heyder die eine Sängerin der anderen schon einmal an den Hals gehen, um die ungeliebte Seelenfacette zum Schweigen zu bringen. Eine der Sängerinnen mutiert irgendwann zur Ärztin, die dann selbst an den Rand des Wahnsinns gerät und ihren Patientinnen mit Verbandsgaze das Maul zu stopfen versucht. In den an die Wand projizierten Gedankenfetzen rastet die Therapeutin auch aus und bekennt, dass sie diesen "Scheißjob" hasse, um sich danach dann bei der Patientin zu entschuldigen.
    Eine Ahnung von den Leiden psychotischer Personen wird ermöglicht
    Philip Venables setzt mit seiner Musik die Stimmungen des Textes ungeheuer sensibel und fantasievoll um. Das ist im Ganzen eher illustrierend als kontrastierend aber nicht plakativ. Die im tonalen und freitonalen Raum platzierte Harmonik hat Venables mit Geräuschen, Elektronik und Reminiszenzen an Bach oder englische Lautenlieder angereichert. Man spürt immer wirkliches Mit-Leid mit diesen extremen Zuständen, und gerade dadurch entsteht eine Dimension, die eine Ahnung von den Leiden psychotischer Personen ermöglicht.
    Die sechs exzellenten Sängerinnen spielen und singen die anspruchsvollen Partien in dem kompliziert verschachtelten Gefüge ebenfalls mit packender Leidenschaft und stimmlicher Klasse. Das gilt auch für den souveränen Dirigenten Max Renne und das Ensemble der zwölf Instrumentalisten.
    An einer Stelle schleudert die Patientin der Ärztin in Sarah Kanes Text entgegen: "Knipsen Sie mir nicht den Verstand aus, indem sie mich versuchen in Ordnung zu bringen". Innere Kämpfe sind wohl einerseits eine Tortur, andererseits aber scheint das Leiden an sich und der Welt auch kreativer Impuls zu sein. So geht es mehr oder weniger vielen Künstlern, nur traurig, dass für Sarah Kane das Leiden zu groß war. Philip Venables musiktheatralische Adaption von "4.48 Psychose" rüttelt auf, berührt und provoziert auch ein Nachdenken über Gegenmaßnahmen.