Schiele, Weigle, Wedel

Deutsche Familiengeschichten aus Warschau

29:41 Minuten
Die Wedel-Fabrik in der Zamoyski-Straße, im Warschauer Stadtteil Praga, Ansicht vom Kamionkowskie-See
Die Wedel-Fabrik in der Zamoyski-Straße, im Warschauer Stadtteil Praga, um 1949 © Narodowe Archiwum Cyfrowe NAC
Von Martin Sander · 20.05.2020
Audio herunterladen
Gehörten lange selbstverständlich zum polnischen Alltag: deutsche Familien, die in Warschau lebten und Unternehmen aufbauten. Wie ein Kaufmann namens Fugger im Jahr 1530. Oder die Schieles, Weigles und Wedels. Im 20. Jahrhundert ging diese Offenheit verloren.
Das Haus Nummer 27 am Ringplatz der Warschauer Altstadt ist eine feine Adresse. Thomas Mann war hier zu Gast, Catherine Deneuve, Izchak Rabin und zahllose königliche Hoheiten. Über dem schweren Eisentor prangt das Schild "U Fukiera". Es verweist auf ein berühmtes Weinlokal mit jahrhundertelanger Tradition.
Derzeit ist "U Fukiera" im Besitz von Magda Gessler, der wohl bekanntesten polnischen Gastronomin. Was auch in Polen viele nicht wissen: Fukier ist die polonisierte Form des deutschen Familiennamens Fugger. 1515 war ein Georg Fugger aus Nürnberg, Angehöriger des schwäbischen Kaufmannsgeschlechts der Fugger oder, wie sie sich auch schrieben, der Fucker, nach Warschau gekommen.
Thomas Mann mit polnischen Schriftstellern (u.a. Juliusz Kaden-Bandrowski, Kazimierz Wierzyński, Jan Lechoń, Julian Tuwim) in der Weinstube Fukier, März 1927.
Thomas Mann mit polnischen Schriftstellern (u.a. Juliusz Kaden-Bandrowski, Kazimierz Wierzyński, Jan Lechoń, Julian Tuwim) in der Weinstube Fukier, März 1927.© Narodowe Archiwum Cyfrowe NAC
Anfang des 19. Jahrhunderts eröffneten Georgs Nachfahren einen Weinkeller mit Verköstigung am Ringplatz. Über viele Generationen blieb das Geschäft in den Händen der Warschauer Familie, die nun Fukier hieß. Ihr letzter männlicher Nachfahre Henryk Maria Fukier starb 1959. Nach dem Überfall auf Polen hatte er 1939 mit ansehen müssen, wie die Deutschen sein Weinlager ausplünderten. Nach Kriegsende kam das Lokal in Staatshand.

Positive Rolle der Deutschen in Warschau

"2004 öffnete in Warschau das Museum des Warschauer Aufstands. Ein oder zwei Jahre danach habe ich es mit meinem Sohn besucht. Es gab dort einen Saal unter dem Titel 'Die Deutschen in Warschau'. Man zeigte ausschließlich den Terror der deutschen Besatzer von 1939 bis 1944. Da dachte ich mir: Ist das nicht übertrieben, wenn bei den Besuchern der Eindruck zurückbleibt, die Deutschen in Warschau, das ist ausschließlich der Zweite Weltkrieg?"
Tomasz Markiewicz, Autor, Warschau-Historiker, Mitarbeiter der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, hat vor einigen Jahren ein Projekt ins Leben gerufen, um die Geschichte der Warschauer Familien deutscher Herkunft zu erforschen und öffentlich zu machen.
"Im Museum des Warschauer Aufstands ging es mir durch den Kopf: Eigentlich haben die Deutschen in Warschau doch auch eine sehr positive Rolle gespielt. Sieben Jahrhunderte lang, seit der Gründung der Stadt, lebten sie hier. Von den ersten Warschauer Ratsherren sprach die Hälfte Deutsch", sagt Markiewicz und ergänzt:
"Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatten wir es mit einer gesellschaftlich meist gut situierten Gruppe zu tun: Unternehmer, Industrielle, hoch gebildete, gut organisierte Bürger, darunter Wissenschaftler, Buchhändler und andere mit deutsch klingenden Nachnamen."
"Mein Großvater hat die Fachschule, die Gerberschule, in Backnang beendet, bei Stuttgart. Und dann ist er nach Warschau gefahren und geblieben", erzählt Piotr Weigle. "Nach ein paar Jahren hat er ein Haus gekauft, wo er im Hinterhof eine größere Werkstatt eröffnet hat. Dort sind seine Kinder, drei Söhne und eine Tochter, geboren. Danach hat er seine eigene Fabrik eröffnet."
Piotr Weigle, geboren 1934, ist der Enkel von Gottlob Luis Weigle, dem Gründer der Lederfabrik G. Weigle & Söhne in Warschau. Heute lebt er mit seiner Frau in einem Vorort der polnischen Hauptstadt. Das Wohnzimmer schmückt ein besonderes Familienandenken, das Warschauer Königsschloss aus Leder. Piotr Weigle hält es mir stolz entgegen.
"Fassen Sie bitte Weigle-Leder an. Das erlaube ich Ihnen. Das ist das Firmenzeichen."

Deutscher Konditor kreierte Markenhit

Szenenwechsel: Ulica Szpitalna, ein sorgsam restauriertes Mietshaus im Stadtzentrum.
Auf dem Dach reitet ein Knabe ein Zebra, ein paar Schokoladentafeln auf dem Rücken - das Markenzeichen der Schokoladenfirma E. Wedel. Im Erdgeschoss ist eine von zahlreichen Wedel-Schokoladentrinkstuben untergebracht im Kaffeehausstil der vorigen Jahrhundertwende, unter dem Dach ein Büro.
"Mein Name ist Elżbieta Jasińska. Ich bin die Urenkelin von Emil Wedel und die Enkelin von Eleonora Wedel, welche einen Charles Whitehead geheiratet hat. Die Kinder von Eleonora Wedel trugen also den Namen Withehead. Meine Mutter hat dann einen Roman Jasiński geehelicht. Und so heiße ich also Jasińska."
Elżbieta Jasińska verwaltet nur einen kleinen Teil des früheren Wedel-Imperiums, einige Immobilien. Der größere Teil ist längst nicht mehr im Familienbesitz. Jasińskas Urgoßvater Emil Wedel hatte hier in der ulica Szpitalna 8, auf dem Hinterhof, Ende des 19. Jahrhunderts die Schokoladenfirma E.Wedel gegründet.
Damit hatte er einen bis heute international bekannten polnischen Markenartikel kreiert. Emil Wedel war als kleines Kind 1845 mit seinem Vater Karl und dessen zweiter Frau Katarina nach Warschau gekommen. Zuvor hatte der Vater, Karl Wedel, in Berlin eine Konditorei geführt.
"Karl kam, weil er hier Entwicklungsmöglichkeiten für sein Konditoreigeschäft sah", erzählt Elżbieta Jasińska. "Er hat einiges versucht. Schokolade wurde dann der Volltreffer. Karl Wedel war ganz klar ein Deutscher. Wie er Polnisch sprach, weiß ich nicht, aber ganz bestimmt schlecht. Sein Sohn Emil Wedel war dann schon polonisiert, von seinen Kindern ganz zu schweigen."

Deutsche wollten im Osten wirtschaftlich aufsteigen

"Diese Deutschen sind damals ganz stark nach Polen gegangen oder nach Osten gegangen, um wirtschaftlich aufzusteigen, sicherlich teilweise auch mit so einem missionarischen Ansatz: deutsche Handwerkskunst, deutsches Städterecht", sagt der Autor und Kabarettist Steffen Möller.
"Damals lief das irgendwie von selbst. Man hat nicht groß darüber nachgedacht, weil es kein Phänomen wie Hitler gab, wo die Unterschiede so hochgepuscht wurden. Heute haben wir diese Unterschiede alle bewusst. Wir reflektieren ständig unsere Klischees über Polen, über Franzosen, über Dänen. Die Polen diskutieren noch stärker übrigens als wir: 'Was heißt polnisch sein?'".
Steffen Möller, Jahrgang 1969, kommt aus Wuppertal. Von 1994 bis 2006 lebte er fest in Polen. Seither pendelt er zwischen Warschau und Berlin. Möller ist durch seine Bücher und durch ungezählte Auftritte im Fernsehen einer der bekanntesten Deutschen in Polen. Vor Autogramm- und Selfiejägern kann er sich kaum retten.
Dass es bereits vor langer Zeit eine enge und friedliche Verflechtung von Polen und Deutschen in seiner Wahlheimat Warschau gab, habe er zunächst ignoriert, bekennt Möller:
"Also in den ersten Jahren, als ich in Polen gelebt habe, in Warschau, habe ich mich überhaupt nicht interessiert für deutsche Geschichte in Warschau. Es war ja klar, deutsche Geschichte heißt Zweiter Weltkrieg."
Doch später stieß auch Möller stärker auf dieses Kapitel der Stadtgeschichte. Dennoch schien es für ihn kaum denkbar, so eng mit seiner Wahlheimat zu verwachsen wie einst die Weigles oder Wedels.

Bereitschaft, sich zu polonisieren

"Früher war das, weiß ich nicht, bei einem Wedel, Emil Wedel, da war vielleicht eine größere Bereitschaft da, sich zu polonisieren, weil es noch nicht diese negativen Vorurteile gegenüber Polen gab. Weil man sich vielleicht als Deutscher auch nicht so wichtig gefühlt hat und weil man sich nicht so stark definiert hat über sein Deutschsein, sondern über andere Dinge – zum Beispiel, dass man Kaufmann ist."
Polen im 19. Jahrhundert war ein Sonderfall: ein Land ohne eigenen Staat, das seine Nachbarn Österreich, Russland und Preußen von der europäischen Landkarte getilgt hatten – ein ehemaliges Großreich. In allen Teilungsgebieten war und blieb es multiethnisch.
"Es kommt eigentlich zu einer paradoxen Situation. Wir haben uns angewöhnt, das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Nationalstaaten zu sehen, während wir heute im vereinten Europa leben. In Wirklichkeit ist es doch genau umgekehrt. Wir leben heute mit einem sehr starken nationalstaatlichen Bewusstsein, während früher in Osteuropa, gerade im 19. Jahrhundert, die Grenzen fließend waren", meint Möller.
"Damals sind die Leute echt mit einem Planwagen nach Osten gezogen. Polen war in diesem Spannungsgebiet zwischen Deutschem Reich und russischem Reich eine Art Niemandsland, eine riesige Integrationszone, wo nicht so ganz klar war, wer gehört jetzt wohin. Und da gab es eine riesige Chance für so eine Integration von unten. Wir haben heute Integration von oben. Die Eliten heute in Europa sagen, wir müssen uns verbinden und Brüssel und Europawahl und so."
Damals erstarkte im staatenlosen Vielvölkerpolen die polnische Nationalbewegung. Sie zog auch viele andere, darunter Deutsche, in den Bann. Zum Beispiel durch Eheschließungen waren sie familiär zunehmend mit Polen verbunden und identifizierten sich mit der neuen Heimat. Auch Deutsche kämpften für die polnische Unabhängigkeit.
Und die Aktien der polnischen Unabhängigkeitsbewegung stiegen mit der Niederlage Österreichs, Deutschlands und Russlands im Ersten Weltkrieg sprunghaft. Ihr militärischer Anführer Józef Piłsudski nutzte die Gunst des historischen Augenblicks und gründete 1918 wieder eine polnische Republik.

Süßwarenfabrik für über tausend Mitarbeiter

Besonders in Grenzgebieten rebellierten nun die Minderheiten gegen die neue Zentralmacht, im Norden die Litauer, im Osten die Ukrainer, im Westen die Deutschen. Doch viele deutschstämmige Bürger von Warschau sahen im neuen Staat ihre persönliche Chance.
Gottlob Luis Weigle aus Backnang baute seinen kriegszerstörten Betrieb in Warschau wieder auf.
Familientreffen aus Anlass des 50. Geburtstags von Gottlob Luis Weigle. Von links in der mittleren Reihe: der Jubilar, seine Schwiegermutter Christina Daab und seine Frau Anna. 
Familientreffen aus Anlass des 50. Geburtstags von Gottlob Luis Weigle © Familienarchiv / Piotr Weigle
"Die Fabrik, da sind nur Mauern geblieben. Er hat von England einen Kredit bekommen, für die ganze Lederindustrie in Warschau hat er den Kredit bekommen. Und dank diesem hat er neueste Maschinen aus Deutschland bezogen und 1922 wieder begonnen mit der Produktion", erzählt Piotr Weigle.
"Die Qualität war sehr hoch. Deshalb konnte er weiter Maschinen kaufen und die Produktion ergänzen. Er hat gut verdient, auf verschiedenen Ausstellungen in Österreich, in der Ukraine, hat Preise gewonnen, der Großvater. Zum Beispiel auf der Posen-Messe 1929 haben die Erzeugnisse der Firma Weigle u. Söhne zwei große Medaillen erhalten."
Die Geschäfte im neuen, unabhängigen Polen florierten, nicht nur die der Weigles. Der Schokoladenhersteller Jan Wedel, Sohn von Emil und Enkel von Karl, errichtete mitten in der Weltwirtschaftskrise eine neue Süßwarenfabrik im Ostteil der Stadt für über tausend Mitarbeiter.
Auch eine andere Firma, von Deutschen gegründet und betrieben, stieg während der Aufbaukonjunktur des neuen Polen zum Branchenriesen auf: die Aktiengesellschaft Haberbusch & Schiele. Gegründet hatten sie anno 1846 Konstantin Schiele, Sohn eines thüringischen Einwanderers, und Blasius Haberbusch aus Württemberg (gemeinsam mit Henryk Klawe). Zwischen den Weltkriegen trat Aleksander Schiele in die Führung des Konzerns ein.
Sein Enkel ist der 1964 in Warschau geborene Robert Azembski.
"Aleksander war schon ganz und gar polonisiert. Er sprach nicht nur Polnisch, er fühlte sich als Pole. Er fühlte sich als Pole, aber auch als Protestant. Und er leugnete seine Herkunft nicht."

"Die ersten Jahre hat sie sehr geweint"

Robert Azembski nennt ein verbindendes Merkmal, das für die Schieles, Weigles und viele andere Polen deutscher Herkunft in Warschau gilt. Sie sind keine Katholiken, wie die überwiegende Mehrheit der Polen, für die das Katholische auch einem nationalen Bekenntnis gleichkommt. Sie gehören der kleinen evangelisch-lutherischen Kirche des Landes an.
"Die evangelische Kirche in Polen hielt ihre Gläubigen dazu an, sich nicht in den politischen Streit einzumischen. Daher nahm Aleksander weder Partei für die polnischen Nationalisten unter ihrem Anführer Roman Dmowski noch für die Sozialisten des Staatsgründers Józef Piłsudski. Aleksander Schiele war da ganz klar Lutheraner", so Robert Azembski weiter.
Für die Weigles ist die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche in Warschau bis heute von großer Bedeutung, einer der wenigen Orte im öffentlichen Leben der Stadt, wo nicht nur Polnisch, sondern bei Gelegenheit auch Deutsch gesprochen wird. Für die Weigles war die Beziehung zu Deutschland und zur deutschen Kultur wichtiger als für andere Warschauer mit deutschen Vorfahren.
"Mein Vater musste oft zur Kur fahren nach Deutschland. Dort hat er eine ältere Dame mit einem jüngeren Mädchen kennengelernt. Das Mädchen war ungefähr 18 Jahre jünger als mein Vater, und es wurde meine Mutter. Sie haben geheiratet in Erfurt – in der Kirche, und später der Empfang war im Hotel Erfurter Hof", erzählt Piotr Weigle.
"Danach ist sie nach Warschau gekommen. Die ersten Jahre hat sie sehr geweint. Denn mit niemandem konnte sie sich unterhalten. Das Bedienungspersonal konnte kein Wort Deutsch. Vater war ständig beschäftigt in der Fabrik. Vater ist gestorben am 15. Januar 1938 nach einer Operation in Berlin, Magenoperation."

Besuch aus München - mit SS-Uniform

Und noch eine Episode aus jenen Jahren hat sich ins Familiengedächtnis der Weigles eingebrannt. Eines Tages, noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, erhielt Piotrs Mutter Else Weigle, geborene Schönstedt, Besuch von ihrer Schwester und deren Ehemann aus München.
"Der Schwager hat sich umgezogen in eine SS-Uniform, in einer schwarzen Mütze und einer schwarzen Uniform der SS mit Hakenkreuzbinde. Und da waren viele Gäste. Das war eine Feier, und die Leute waren erstaunt, weil ein Verwandter meiner Mutter ist in schwarzer Uniform aufgetreten. Meine Mutter hat gesagt, sie sollen bitte rausgehen aus diesem Gästeraum. Das war vor dem Krieg", berichtet Piotr Weigle.
"Meine Mutter hat erst angefangen, Polnisch zu lernen nach 1939."
Wenige Tage nach dem Einmarsch der Deutschen, am 5. Oktober 1939, nimmt Adolf Hitler in Warschau die Siegesparade ab. Einige Warschauer deutscher Herkunft sind begeistert, andere erbost und verzweifelt. Manche fühlen sich hin- und hergerissen.
"Comme ci, comme ça!", meint Piotr Weigle. "Meine Schwester hat mir erzählt, dass, als die Siegesparade in Warschau war, Mutter unbedingt hinfahren wollte! Am Anfang war sie auch begeistert, denn sie fühlte sich als Deutsche. Später, all die Situationen, da hat sie ihre Meinung etwas geändert. 1940 hat sie einen Freund der Familie geheiratet, auch evangelisch und wahrscheinlich auch deutscher Herkunft. Dann war sie auf der Seite der Polen.
Zum Beispiel: Wir wohnten auf der Marszałkowska-Straße. Das Haus war durch Deutsche besetzt. Ein paar Mal sind Herren in schwarzen Anzügen gekommen, Deutsche, und haben von Mutter verlangt, dass die Kinder in die deutsche Schule gehen müssen. Aber sie hat gesagt, dass sie einen Polen als Mann hat. Sie kann das nicht machen. Sie müssen in eine normale polnische Schule gehen, weil die Kinder in Warschau geboren sind. Und sie haben mit den Deutschen nichts zu tun."

Deutsche Besatzer forderten Eintragung in die "Volksliste"

Die deutschen Besatzer führten die so genannte Volksliste ein. Wer deutscher Herkunft war, wurde aufgefordert, sich durch den Eintrag in die nach Kategorien abgestufte Volksliste als Deutscher zu bekennen. Mit der Volksliste warb Deutschland um Helfershelfer für seine Besatzungspolitik und um Soldaten für den Krieg im Osten.
Im Gegenzug privilegierte man die Deutschen der Volksliste gegenüber den Polen - von der Nahrungsmittelzuteilung über die Wohnungsvergabe bis zum beruflichen und sozialen Aufstieg. Aus polnischer Sicht war, wer die Volksliste unterzeichnete, ein Landesverräter. Die Betroffenen entschieden sich allerdings nicht immer freiwillig. Wer sich der Volksliste offen verweigerte, dem drohten Sanktionen durch die Besatzungsmacht.
"Man hat Jan Wedel vermutlich so etwas vorgeschlagen, aber er hat abgelehnt. Er hat wohl gesagt, er könne seinen Mitarbeitern gar nicht mehr in die Augen schauen – und damit war die Sache erledigt", vermutet Elżbieta Jasińska, die Enkelin des Schokoladenfabrikanten, und Robert Azembski weiß über seinen Großvater Aleksander Schiele:
"Man hat ihm geraten und ihn gedrängt, die Reichsliste zu unterschreiben, einige sagen, die Volksliste. Die Reichsliste war eine Stufe höher. Sie bot mehr Privilegien. Aber in unserer Familie gibt es keinen Hinweis, dass er eine dieser Listen unterschrieben hat. Denn die Schieles waren ganz und gar polonisiert.
Und solche Familien gab es in Warschau viele. Die meisten von ihnen waren kluge, gebildete Leute. Sie wussten, dass der Nationalsozialismus zerstörerisch war und keine Zukunft hatte. Selbst wenn man noch an seinen deutschen Wurzeln hing, wollte man sich damit nicht identifizieren."

Die Besatzung wird zur Gratwanderung

Für viele wird die Besatzung zur Gratwanderung. Sie machen Geschäfte mit den Deutschen, verhalten sich aber auch loyal zum polnischen Untergrund.
Das Familienalbum der Schieles zeigt Julitta Schiele, die Mutter von Robert Azembski, als Jugendliche im Sommerkleid hinter dem Lenkrad eines schönen offenen Zweisitzers posierend – im Warschauer Villenvorort Konstancin.
Aleksander Schiele mit seiner Frau Zofia (geb. Engemann) und den Kindern Jerzy und Julitta sowie der Gouvernante Irene im Salon ihrer Villa, 1930er Jahre.
Aleksander Schiele mit seiner Frau Zofia (geb. Engemann) und den Kindern Jerzy und Julitta sowie der Gouvernante Irene im Salon ihrer Villa, 1930er Jahre.© Familienarchiv / Robert Azembski
Es ging ihnen sichtlich gut, im Gegensatz zur Masse der polnischen Bevölkerung und vielen vormals Privilegierten, die nun der Verelendung ausgesetzt waren. Bei dem luxuriösen Cabriolet handelt es sich um einen Dienstwagen der Aktiengesellschaft Haberbusch & Schiele. Das Unternehmen verkaufte Bier in großen Mengen, einer der Hauptabnehmer war die Wehrmacht.
"Sie mussten so tun, als ob sie sich gegenüber den deutschen Besatzern korrekt verhielten", erzählt Robert Azembski. "Aus Erzählungen weiß ich, dass sie alles taten, um loyal zu wirken. Es ging vor allem um das Bier. Den Deutschen lag sehr an der Bereitstellung von Kontingenten durch die Brauerei, damit sie dann durch den Export Gewinne einstreichen konnten. Solange das klappte, mischten sie sich nicht weiter ein.
Es sei denn, ihnen kamen Gerüchte zu Ohren, dass sich das Unternehmen am polnischen Widerstand beteiligte, also, wie die Besatzer es nannten, mit den 'Banditen' paktierten. Und das war bei den Schieles der Fall."

Brauerei wurde zum Schauplatz des polnischen Widerstands

Die Brauerei Haberbusch & Schiele wurde unter deutscher Besatzung zum Schauplatz des polnischen Widerstands.
Aleksander Schiele half Untergrundkämpfern, sich falsche Papiere zu besorgen, sogenannte Kennkarten. Er beschäftigte zahlreiche Angehörige der nationalpolnischen Heimatarmee. Auch rettete er Dutzende von jüdischen Polen, indem er sie im Unternehmen anstellte oder in seinem Wohnort Konstancin bei Warschau versteckte.
Julitta Schiele, Tochter des Brauereibesitzers Aleksander  Schiele im Dienstwagen, 1940er-Jahre.
Julitta Schiele, Tochter des Brauereibesitzers Aleksander Schiele im Dienstwagen, 1940er-Jahre.© Familienarchiv / Robert Azembski
Da die Brauerei Haberbusch & Schiele direkt an das streng bewachte Warschauer Ghetto grenzte, nutzte man ein Ventilatorloch im Gemäuer und schmuggelte Medikamente und Lebensmittel. Auch Waffen gelangten so ins Ghetto zu den Eingesperrten, die damit im Frühjahr 1943 den Aufstand wagten.
Einige Monate später kamen Agenten der Gestapo Aleksander Schiele und seinem im Untergrund aktiven Sohn, dem Onkel von Robert Azembski, auf die Spur.
"Am 23. Oktober 1943 verhafteten die Deutschen Aleksander und Jerzy Schiele. Sie holten sie nachts ab und brachten sie in die Gestapo-Zentrale. Dann steckten sie sie in das berüchtigte Pawiak-Gefängnis. Beim Verhör wurden Vater und Sohn brutal gefoltert. Daraufhin hat der Vorstand der Brauerei-Aktiengesellschaft Geld gesammelt, um die Deutschen zu schmieren", sagt Robert Azembski.
Dadurch kam Aleksander Schiele bald wieder frei. Doch bei Jerzy, seinem einzigen Sohn, endete der Bestechungsversuch tragisch. Um ihn aus den Händen der Gestapo zu befreien, hatte die Familie das höchste Lösegeld geboten, das den Besatzern je geboten wurde, eine Million Zloty nach Vorkriegswert.
"Jerzy Schiele war Aleksanders einziger Sohn. Aleksander wollte alles tun, um ihn freizubekommen", so Robert Azembski weiter. "Und Jerzys Los schwankte. Man hatte seinen Namen bereits von der öffentlichen Ankündigung der nächsten Erschießungen getilgt. Doch plötzlich wechselten bei der Gestapo die Zuständigkeiten. Und die Nachricht, die Schieles würden ihren Sohn für eine Million Zloty freikaufen, kursierte bereits in der Stadt. So bekam man auch in Berlin, in der Umgebung von Heinrich Himmler, Wind davon. Berlin befahl die Vollstreckung. Man wollte den anderen Familien deutscher Herkunft vorführen, was ihnen drohte, wenn sie sich dem Dritten Reich gegenüber nicht loyal verhielten."

Während des Warschauer Aufstands auf der Seite Polens

Keine andere Warschauer Familie deutscher Herkunft war so eng mit dem polnischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung verbunden wie die Schieles. Doch auch in Jan Wedels Süßwarenfabrik arbeitete man gegen die Deutschen. Während Angestellte Schokolade in die Gestapozentrale lieferten, spionierten sie dort die Verhältnisse aus und halfen damit dem Untergrund, zum Beispiel bei der Befreiung von politischen Gefangenen.
Am 1. August 1944 brach der Warschauer Aufstand unter Federführung des nationalen polnischen Untergrunds und dessen Heimatarmee aus. Seine brutale Niederschlagung durch SS und Wehrmacht kostete über 150.000 Zivilisten in der polnischen Hauptstadt das Leben. Viele der Warschauer Bürger deutscher Herkunft standen auch während des Warschauer Aufstands auf der Seite Polens.
Gleichwohl erwartete gerade sie nach der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee 1945 ein schweres Schicksal: Durch ihre oft hervorgehobene soziale Stellung galten sie nun als Vertreter der ausbeutenden Klasse. Der Umstand, dass sie deutsche Namen trugen, begünstigte Ressentiments in der Bevölkerung. Das Eigentum dieser angeblichen "Volksfeinde" ging in den Besitz des Staates über, eine Maßnahme, die prinzipiell populär war, besonders jedoch, wenn sie wohlhabende Bürger deutschen Namens traf. Dennoch machten die Kommunisten zuweilen Kompromisse.
"Als die polnischen Kommunisten die Fabrik von Jan Wedel übernahmen, änderten sie als erstes den Namen. Aus 'Wedel' wurde '22. Juli'. Denn am 22. Juli 1944 hatten die Kommunisten die erste kommunistische Nachkriegsregierung ins Leben gerufen", erzählt Elżbieta Jasińska. "Aber nach etlichen Jahren druckte man auf den Etiketten neben diesem '22. Juli' auch in sehr kleinen Druckbuchstaben 'E. Wedel'. Diesen Zusatz benötigten sie wohl für den Export. Die Bedeutung der Marke Wedel wuchs im Laufe der Jahre. Ich weiß nicht, wohin sie die Ware exportierten, die Qualität war schlecht und im späten Kommunismus richtig scheußlich, man nannte das dann schokoladenähnlich, ein Imitat, ungenießbar."
Diesen Abstieg seiner Firma unter kommunistischer Führung hat Jan Wedel nicht mehr erlebt. Er starb 1960 und mit ihm der letzte männliche Wedel in Warschau. Robert Azembski, Sohn von Julitta Schiele, der Schwester des von der Gestapo ermordeten Widerstandskämpfers Jerzy, sagt über das Nachkriegsschicksal seines 1976 verstorbenen Großvaters Aleksander:
"Er hatte in der polnischen Volksrepublik eine gute Stellung, wenn auch nur bis 1949. Denn er war bis zur Verstaatlichung der letzte Vorstandsdirektor der Vereinigten Warschauer Brauereien Haberbusch & Schiele. Er hatte sich bereit erklärt, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, damit sie die Firma und die Produktion nicht gänzlich zerstörten. Denn sie kannten sich nicht aus, hatten nicht die geringste Ahnung von den Regeln des Geschäftslebens, geschweige denn von der Bierproduktion."

Undurchsichtige Reprivatisierung nach 1989

Unter dem Namen "Warschauer Brauereien" überdauerte das Unternehmen von Haberbusch und Schiele den Kommunismus. Nach 1989 begann die Reprivatisierung.
Die verlief überaus undurchsichtig. Auf dem historischen Brauereigelände entsteht derzeit eine exklusive Neubausiedlung. Die Nachfahren von Aleksander Schiele haben damit nichts zu tun und keinen Vorteil, so wenig wie Elżbieta Jasińska im Falle der Süßwarenfabrik "E. Wedel", die inzwischen einem japanisch-koreanischen Konsortium gehört.
Piotr Weigle hält seinen Enkel Michel in den Armen.
Piotr Weigle mit seinem zweiten Enkel Michael im Jahr 2004© privat / Piotr Weigle
Auch Piotr Weigle hat mit dem einstigen Familienimperium nichts mehr zu tun. Seine Mutter, die erst 1939 Polnisch lernte, blieb nach Kriegsende mit ihren drei Kindern in Polen. Sie zog nach Oberschlesien, das nach dem Krieg zu Polen kam und wo ihr Polnisch mit deutschem Akzent weniger auffiel. In Gliwice - auf Deutsch: Gleiwitz - eröffnete sie zunächst ein Porzellangeschäft und handelte später mit Lederwaren. Ihren Lebensabend verbrachte sie in Wrocław, während ihr Sohn Piotr in Warschau eine Familie gründete.
Piotrs Onkel Aleksander Weigle hingegen, vor dem Krieg Geschäftsführer der Lederfabrik, reiste in den späten fünfziger Jahren in die Bundesrepublik aus, wo einer seiner Söhne bereits Fuß gefasst hatte. Beerdigt wurde Aleksander Weigle in Backnang bei Stuttgart. Also dort, wo sein Vater im späten 19. Jahrhundert nach Warschau aufgebrochen war.

"Weigle aus Warschau" sollte auf dem Grabstein stehen

Piotr Weigle erinnert sich an ein bemerkenswertes Detail am Grabstein seines Onkels.
"Mein Onkel Aleksander ist in Backnang 1968 gestorben und hat von seinem Sohn gewünscht, dass er auf den Grabstein schreibt: Weigle aus Warschau. Und tatsächlich war das auf dem Grabstein da gewesen, Weigle aus Warschau. Leider haben das seine Kinder ein paar Jahre später entfernt. Vielleicht sind sie so deutsch geworden, dass sie gedacht haben, wozu Warschau hier schreiben, vielleicht – weiß ich nicht."
In der Nachkriegszeit war es nicht nur schwierig, Pole deutscher Herkunft in Polen zu sein. Auch in Deutschland hatte man es nicht leicht, wenn man aus Polen kam, selbst wenn man deutscher Herkunft war.
Inzwischen hat sich einiges verändert; die Frage ist: wie viel? Steffen Möller, dessen bekanntestes Buch "Viva Polonia" den Untertitel trägt: "Als Gastarbeiter in Polen", hat lange in Warschau gelebt und gearbeitet und dann begonnen, zwischen der polnischen und der deutschen Hauptstadt zu pendeln. In Polen erlangte Möller eine Popularität wie kein anderer Deutscher – und...
"... ich gehörte dann auch zu den Deutschen in Warschau. Plötzlich war ich in diesem Klub drin. Das war so 2005. Da war ich schon richtig gesettelt. Ich verdanke Polen eigentlich alles: Arbeit, Wohnung, Partnerin. Ja, und in dem Moment habe ich dann auch darüber nachgedacht, dass ich auch im Alter wieder in Polen bin, in Warschau, denke ich übrigens auch heute noch.
Am allerstärksten habe ich nachgedacht über die deutschen Wurzeln in Warschau auf dem protestantischen Friedhof in der ulica Młynarska. Da gibt es einen protestantisch-reformierten Friedhof. Und da liegen viele deutsche Namen. Da war ich einmal an einem 1. November, Allerheiligen, wo man in Polen immer auf die Gräber geht. Und da hatte ich plötzlich die Vision, da möchte ich auch mal liegen."
Über Jahrhunderte gehörten Deutsche selbstverständlich zur polnischen Gesellschaft. Doch das Selbstverständliche ging im 20. Jahrhundert zu Bruch. Und der Weg zurück ist weit.

Es sprachen: Anika Mauer, Eva Meckbach, Alexander Radszun, Frank Robert und der Autor
Ton: Ralf Perz
Regie: Stefanie Lazai
Redaktion: Winfried Sträter

Mehr zum Thema