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Türkei
Anstrengen für Allah

Heute beginnt das neue Schuljahr in der Türkei, in einigen Fächern gelten veränderte Lehrpläne. Schon Grundschüler befassen sich nun mit dem "Dschihad". Das Wort werde missbraucht, Kinder sollten lernen, was es wirklich bedeute, sagen Verteidiger der Reform. Kritiker sehen das Ende des Laizismus.

Von Luise Sammann | 18.09.2017
    Kinder in einer Schule in der Türkei
    Der Dschihad soll ab diesem Montag zum Standardstoff türkischer Grundschüler gehören (imago/imagebroker)
    Im kleinen Amphitheater des Istanbuler Abbasağa-Parks stehen nur selten Schauspieler auf der Bühne. Ungenutzt bleibt es dennoch nicht: Schon seit den Gezi-Protesten im Jahr 2013 versammeln sich hier regelmäßig Regierungsgegner und Bürgerinitiativen jeder Art. Von der liberalen Bezirksregierung geduldet diskutieren sie häufig bis spät in die Nacht.
    Auch an diesem lauen Septemberabend drängeln sich auf den Steinstufen etwa 100 Menschen. Lehrer, Eltern und Schüler, die reihum in ein Mikrofon sprechen, das von Hand zu Hand wandert. Es geht um den Lehrplan, den das türkische Bildungsministerium vor Kurzem veröffentlichte - und der sich nach Meinung der Anwesenden zu sehr auf ein Thema konzentriert: die Religion.
    "Die Regierung sagt offen, sie wolle eine religiöse Gesellschaft formen, und dementsprechend passt sie das Curriculum an", schimpft Klassenlehrerin Ayse. "Nicht nur, dass es nun statt einer Stunde zwei Stunden Religionsunterricht in der Grundschule gibt. Es geht auch um alle anderen Fächer. Schauen Sie nur mal in ein normales Türkischbuch. Sämtliche Texte dort beschäftigen sich plötzlich mit religiösen Themen. Und auf den Bildern tragen alle Frauen Kopftücher. Genau wie in den Lesebüchern und Lehrfilmen."
    Meltem Figen, Schülermutter und Sprecherin der heutigen Versammlung, nickt zustimmend.
    "Kurz vor Beginn des Schuljahres veröffentlichen sie den neuen Lehrplan - und jeden Tag entdecken wir darin neue Skandale", sagt Meltem Figen. "Nehmen Sie nur das Thema Dschihad! Krieg und Hass - das sind Dinge, die ich als Mutter von meinen Kindern fernhalten will. Stattdessen lernen sie es nun in der Schule."
    "Dschihad": ein missbrauchtes Wort
    Tatsächlich soll der Dschihad - im Deutschen oft als "Heiliger Krieg" übersetzt - ab diesem Montag zum Standardstoff türkischer Grundschüler gehören. Traditionell gilt der türkische Islam als moderat. Soll sich das damit ändern? Im Gegenteil, beschwichtigte Bildungsminister İsmet Yilmaz bereits mehrfach.
    "Wenn Sie in Europa vom Dschihad sprechen, denken die Menschen an Bomben und Selbstmordattentäter auf Marktplätzen und in Kinosälen", weiß auch Mustafa İslamoğlu, Theologe aus Istanbul. "Sogar unter den Muslimen denken 95 von 100, dass Dschihad Töten bedeutet. Aber wenn wir in den Koran schauen, sehen wir, dass es um etwas völlig anderes geht. Dschihad bedeutet Anstrengung und persönliches Streben. Es geht nicht darum, Menschen umzubringen, sondern im Gegenteil darum, sie zu beleben - ihre Werte, ihre Güte, ihre Schönheit anzuregen."
    Gerade weil "Dschihad" eines der am meisten missbrauchten Worte des Korans sei, so die Anhänger des neuen Unterrichtsfachs, sollen türkische Kinder die friedliche Auslegung des Begriffs ab sofort schon in der Grundschule lernen.
    Aleviten fürchten Assimilation der Kinder
    Doch Kritiker wie Zeynel Şahin beruhigen solche Erklärungen nicht. Im Gegenteil:
    "Stück für Stück werden Werte wie Laizismus, Demokratie und die Errungenschaften von Republikgründer Atatürk im türkischen Lehrplan mit Inhalten wie Dschihad oder Scharia ersetzt."
    So Şahin, führendes Mitglied der alevitischen Gemeinde Istanbuls, die sich von den religiösen Ideen des AKP-Regimes besonders bedroht fühlt.
    "Schon in der Grundschule bringen sie den Kindern die religiösen Waschungen und Gebetsrituale bei oder richten Moscheen ein. Alles nach sunnitischen Vorschriften. Wer wir sind, eine Minderheit, die seit den Anfängen der Osmanen auf diesem Boden leben, darüber findet sich kein Wort in den Schulbüchern."
    Ob die Aleviten sich selbst zu den Muslimen zählen oder nicht - darüber herrscht Uneinigkeit. Ein Grund dafür, warum ihre oft eher liberalen Bräuche und Rituale, in weiten Kreisen der türkischen Gesellschaft nicht anerkannt werden. Auch ihre Gebetshäuser, die so genannten Cem Evis, haben keinen offiziellen Status, müssen im Gegensatz zu den Moscheen der Mehrheitsgesellschaft privat finanziert werden. AKP-Minister betonten in der Vergangenheit öffentlich: Ein ordentliches Gebetshaus habe ein Minarett, oder es sei eben keins.
    "Dass wir zu diesem Land gehören, dass wir auch fasten, auch beten, auch feiern - all das erzählen sie in den Schulen nicht", sagt Zeynel Şahin. "Stattdessen müssen wir zusehen, wie unsere eigenen Kinder im Religionsunterricht einer Gehirnwäsche unterzogen werden - wie man versucht, sie zu assimilieren und so das Alevitentum auszurotten."
    "Religiöse Erziehung sollte Privatsache sein"
    Für Zeynel Şahin gibt es nur einen Ausweg: Nicht nur die neuen Lektionen zu Dschihad und Scharia, sondern der gesamte verpflichtende sunnitische Religionsunterricht an türkischen Schulen muss endlich abgeschafft werden.
    Das finden auch die Teilnehmer der abendlichen Diskussionsrunde im Istanbuler Abbasağa-Park.
    "In diesem Land gibt es 20 Millionen Aleviten. Und dazu wer weiß wie viele Atheisten. Wir alle müssen zusammen gegen die eindimensionale Erziehung unserer Kinder protestieren", so Schülermutter Meltem Figen. "Mein Sohn ist gerade mal neun Jahre alt. Alles, was seine Lehrer zu ihm sagen, macht großen Eindruck auf ihn. Gerade deswegen sollte die religiöse Erziehung Privatsache sein. Jede Familie sollte sie entsprechend ihrem eigenen Glauben zuhause geben können."
    Von solchen Zielen aber entfernt sich die Türkei mit dem neuen Lehrplan einmal mehr. Selbst Englisch- und Chemielehrer klagen auf der Versammlung im Abbasağa-Park, dass sie angehalten sind, die nationalistisch-islamischen Werte der AKP-Regierung in ihren Unterricht einfließen zu lassen. Wer nicht gehorcht, muss um seinen Job fürchten.