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Türkei
Die kulturpolitische Gängelung der Theatermacher

Seit den Gezi-Protesten vor zwei Jahren hat die freie Theaterszene in Istanbul einen enormen Aufschwung erlebt. Rund 20 neue Gruppen wurden gegründet und bereichern nun die ohnehin dynamische Szene der Türkei. Doch gleichzeitig nehmen die Repressionen zu.

Von Dorothea Marcus | 22.02.2015
    Türkische Bürger schreien Slogans am ersten Tag des Ramadan - die Gezi-Proteste gegen die türkische Regierung am 09 Juli 2013 in Istanbul.
    Auch viele Theaterleute waren 2013 während der Proteste gegen die türkische Regierung aktiv und wurden massiv bestraft. (dpa / picture alliance / Georgi Licovski)
    "Man kann das Kulturleben Istanbuls in eine Zeit vor und in eine Zeit nach Gezi einteilen. Es hat sich alles für uns geändert. Aber auch die individuellen Repressionen nehmen täglich zu. Es ist immer weniger möglich, irgendwo ein Bier zu trinken. Eine offizielle Zensur für unsere Stücke gibt es nicht, aber das kann sich jeden Moment ändern. Nach Gezi wurde ein Gesetz erlassen: Wenn ein Stück, das staatliche Unterstützung erhalten hat, moralisch nicht zusagt, dann muss man das Geld innerhalb von zwei Wochen mit Zinsen wieder zurückzahlen. Seit zwei Jahren befinden wir uns im ständigen Kampf. Die gute Nachricht allerdings ist: Das Interesse des Publikums an freiem Theater ist so groß wie nie zuvor."
    Das erzählt der 28-jährige Berkay Ateş, Gründer des Tyatro D22 und Theaterautor in Istanbul. Kurz vor den Protesten im Frühsommer 2013 wurde das kleine Theater in einer alten jüdischen Bäckerei in einem Hinterhof gegründet, zwei Kilometer vom Gezi-Park entfernt. Drei Stücke von Ateş stehen dort auf dem Spielplan.
    Tyatro D22 zu Gast im Theater an der Ruhr
    Heute Abend ins Theater an der Ruhr ist das Tyatro D22 mit dem Stück 25 gekommen. Es ist eine düstere Farce in Fernsehspiel-Ästhetik: Im türkisch-kurdischen Kriegsgebiet in den südöstlichen Bergen sind ein Soldat und ein Journalist in einem kaputten Auto gestrandet, auf der Bühne sieht man in blauem Licht Häuserruinen und ein Autoskelett. Der eine will desertieren, weil sich in seiner Kaserne jemand erhängt hat, der andere flieht vor seinem sinnentleerten Dasein, da er in der Zeitung zunehmend die Wahrheit verdrehen muss. Absurd komisch ist es, wie ihnen Freunde über Facebook Tipps zum Batteriewechsel geben oder die Fußballergebnisse mitteilen.
    Als zwei kurdische Guerilla-Kämpfer auftauchen, treffen mit viel Pistolengeknalle zwei Welten aufeinander: die internet-süchtigen Großstadtjugendlichen und die Realität des Krieges.
    "Wir wollten erzählen, was der langjährige türkisch-kurdische Konflikt für heutige 25-Jährige bedeutet, ohne jeglichen Nationalismus – von dem haben wir wirklich genug."
    Enormer Aufschwung der freien Szene in Istanbul
    Die Fernsehästhetik ist typisch für die neue freie Theaterszene Istanbuls: "In yer face"-Stücke behandeln nach Art des neuen britischen Dramas politisch direkt, was die Jugend beschäftigt, mit Einsatz von Video und Internet, ohne sich bei poetischen Überhöhungen aufzuhalten. Das beeinträchtigt zuweilen die Qualität. Seit den Gezi-Protesten hat die freie Szene in Istanbul einen enormen Aufschwung genommen, rund zwanzig neue Gruppen wurden seitdem gegründet – und bereichern nun die ohnehin dynamische Theaterszene der Türkei. Viele Stücke zum Thema Gezi sind so entstanden.
    Auch Berkay Ates hat eins geschrieben. "Karabatak" heißt übersetzt Kormoran, das Symbol Istanbuls. Gedichte des sozialistischen Dichters Nâzım Hikmet werden mit Namen der bei den Protesten Getöteten versetzt, die Erlebnisse, als sich die vier Theatermacher von D22 im Zelt auf dem Platz verschanzten, in einer Performance nacherzählt.
    "Das Ende war tränengasreich. Das Zelt wurde zerstückelt, unsere Taschen wurden geklaut, einer von uns war im Krankenhaus und unsere Immunsysteme brachen zusammen. Ich sehe heute noch das Bild, als das Einsatzfahrzeug auf uns zurast und wir einen Blumenkübel davorschieben. Wie wenig Angst wir hatten. Es war ein Widerstand, den es in der Türkei vorher nie zuvor gegeben hat. Und solange wir so eingeschränkt werden, kann dieser Funke jederzeit wieder aufflammen."
    Theaterleute wurden massiv bestraft
    Das erzählt Besre Atvar, die Managerin von D22. Sie erzählt auch, dass die Theaterleute, die während der Gezi-Proteste aktiv waren, massiv von der Erdogan-Regierung bestraft wurden: Sie und etwa 15 andere Theater verloren eine schon zugesagte Förderung. Aber nicht nur die freien Theater kämpfen unaufhörlich, sondern auch die vielen Staats- und Stadttheater der Türkei. Der Gesetzentwurf "Kunstinstitution der Türkei" sieht vor, alle künstlerischen Entscheidungen eines Theaters vom Ministerrat abhängig zu machen. Eines der wichtigsten Theater Istanbuls, das Atatürk-Kulturzentrum, ist bereits seit 2008 wegen Renovierung geschlossen – fraglich, ob es je wieder öffnet.
    Erdogan und die Kunstfreiheit
    Die Erdogan-Regierung scheint entschlossen, die Kunstfreiheit zunehmend zu beschneiden. Ein Gericht ließ die Abbildung der Solidaritätsausgabe von Charlie Hebdo verbieten. Die ermordeten französischen Karikaturisten finden allerdings die uneingeschränkte Solidarität des Theaters D22. Wo liegen ihre eigenen Grenzen, wenn es um Kunstfreiheit in einem islamisch geprägten Land geht? Würden sie alles darstellen? Der Schauspieler Can Kulan:
    "Wir sollten nicht über die Grenzen der Kunst reden, sondern darüber, wie wichtig der reale Akt ist. Kunst entsteht ja aus der Wirklichkeit. Wenn Karikaturen so eine enorme Wirkung haben, dann heißt es, dass sie einen wunden Punkt treffen. Und da muss man genauer hingucken. Das ist die Funktion von Kunst und die Maxime unseres Theaters."
    Und Autor Berkay Ateş fügt hinzu:
    "Das Massaker an den Karikaturisten hat jeden Künstler besonders berührt. Doch ich bin gegen Grenzen in der Kunst. Diesmal lagen die Grenzen bei der religiösen Darstellung von Mohammed, aber beim nächsten Mal kann es schon etwas ganz anderes sein. Das ist pure Willkür, der man nicht nachgeben darf. Dennoch kann ich nicht leugnen, dass gerade diese armseligen Mörder etwas Fundamentales im Kopf der Künstler verändert haben. Letztlich bleibt nur die dialektische Gewissheit: Die anderen haben Unrecht und wir sind im Recht. Und letztlich werden wir uns durchsetzen."