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Türkei
Einfluss der Baulobby wächst weiter

Eine dritte Bosporusbrücke, ein dritter Flughafen, Autobahnen, Wolkenkratzer und natürlich Shoppingmalls: Regierungskritiker blicken mit Sorgen auf den Stadtentwicklungsplan Istanbuls 2015. Dort taucht auch das umstrittene Bauprojekt im Gezi-Park wieder auf.

Von Luise Sammann | 10.12.2014
    Türkische Bürger schreien Slogans am ersten Tag des Ramadan - die Gezi-Proteste gegen die türkische Regierung am 09 Juli 2013 in Istanbul.
    Die Bauarbeiten im Gezi-Park waren seit dem Sommer 2013 Auslöser für landesweite Proteste gegen Recep Tayip Erdogan. (dpa / picture alliance / Georgi Licovski)
    Süreyya Isfendiyaroglu, 35, fährt mit dem Mauszeiger über einen Stadtplan von Istanbul. An mehreren Stellen ist er mit bunten Punkten übersät.
    "Die roten Punkte stehen für Shoppingmalls. Die blauen für große Wohnanlagen. Alles Projekte, die die ganze Region verändern und noch mehr Menschen anziehen. Dabei haben wir doch schon 16 Millionen Einwohner!"
    Süreyya schüttelt den Kopf. Das rasende Tempo, in dem seine Heimatstadt "zubetoniert" wird, macht ihm Angst. Selbst die Wälder im Norden Istanbuls - die sogenannte grüne Lunge - sind auf der Karte von bunten Punkten durchzogen.
    "Was dort passiert, bedeutet, dass in Istanbul langfristig kein Leben mehr möglich sein wird. Denn in diesen Wäldern befinden sich unsere Wasserreserven. Einen Großteil davon haben wir schon verloren."
    Eine dritte Bosporusbrücke, ein dritter Flughafen, Autobahnen, Wolkenkratzer und natürlich Shoppingmalls... Man muss nicht, wie Süreyya Isfendiyaroglu, Umweltaktivist sein, um mit Sorge auf die zahlreichen Großprojekte zu blicken, die zur Zeit in und um Istanbul entstehen. Dass die AKP-Regierung nun auch noch eine Lockerung der Umweltauflagen für bestimmte Bauprojekte beschlossen hat, beunruhigt auch andere:
    "Bauprojekte werden generell in eine besonders gefährliche und eine weniger gefährliche Kategorie eingeteilt"
    , erklärt Songül Öztürk vom Verband der türkischen Umweltingenieure. Sie und ihre Kollegen erstellen die Berichte, die jeder Bauherr beim zuständigen Ministerium vorzulegen hat, bevor sein Projekt bewilligt wird.
    "Wenn ein Projekt in die gefährliche Kategorie gehört, muss eine Zeitungsanzeige geschaltet werden. Eine öffentliche Versammlung wird einberufen und eine Prüfungskommission wird ernannt. Die Stellungnahmen all dieser Instanzen werden dann in meinem Bericht berücksichtigt. Aber wenn ein Projekt als weniger gefährlich gilt, gibt es all das nicht. Dementsprechend fällt der Bericht dann aus."
    Liste der Bauten nimmt durch Neuregelung zu
    Die Liste der Bauten, für die so ein oberflächlicher Bericht in Zukunft ausreicht, ist durch die Neuregelung nun ein ganzes Stück länger geworden. Wohnanlagen, Golfplätze, Einkaufszentren... Sie alle gelten ab sofort als unbedenklich und müssen damit kaum noch auf ihre Umweltverträglichkeit geprüft werden. Von einer Vereinfachung ganz im Sinne der EU-Richtlinien spricht die türkische Regierung. Von einem Blankoscheck für Umweltzerstörer sprechen ihre Gegner. Auch Umweltingenieurin Öztürk sieht die Lockerung kritisch.
    "Wenn viele Seiten am Prüfprozess beteiligt sind, werden auch die Folgen für Umweltressourcen, Abwassersystem und anderes kontrolliert. Aber wo gar nicht erst richtig geprüft wird, gibt es natürlich auch keine Probleme. Ich denke deswegen, das Ganze soll dem Bausektor den Weg ebnen und ist dazu gedacht, öffentliche Reaktionen auf Großprojekte zu vermeiden."
    Einfluss der türkischen Baulobby wächst weiter
    Es ist nicht das erste Mal, dass die Umweltverträglichkeitsprüfung in der Türkei gelockert wird. 2008, 2011, 201 - immer wieder gab es Änderungen. Und immer wieder fühlten sich die bestätigt, die den wachsenden Einfluss der türkischen Baulobby ohnehin mit Sorge betrachten. Besonders unter der Erdogan-Regierung entwickelte sich die Bauwirtschaft zur Boombranche der Türkei. Nicht selten sind es AKP-Politiker, die in den Chefetagen der großen Firmen sitzen und dadurch von den Lockerungen profitieren. Als Fortschrittsgegner gelten derweil die, die im allgemeinen Wachstumsfieber an die Umwelt denken.
    "Es gibt eigentlich zahlreiche Gesetze, die dazu da sind unsere Nationalparks, Wälder und Naturschutzzonen zu schützen. Aber unter dem Stichwort 'höherer öffentlicher Nutzen' werden sie einfach umgangen"
    , beklagt Pinar Aksogan von Greenpeace Istanbul. Bestes Beispiel: Der Präsidentenpalast mit mehr als tausend Zimmern, den Recep Tayyip Erdogan gerade mitten in einem Wald in Ankara erbauen ließ. Unzählige Bäume mussten dem Prunkbau weichen, obwohl sie eigentlich unter Naturschutz standen. Die türkische Regierung ließ keine Kritik aufkommen. Es gehe schließlich um das "Prestige der Nation".