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Türkei
Entlassungen an den Hochschulen

Nach dem Putschversuch in der Türkei wurden mehr als 1.500 Hochschuldekane zum Rücktritt aufgefordert. Da die Universitäten nicht unabhängig seien, würden Nachfolger schnell benannt werden, sagte Gülay Kızılocak vom Zentrum für Türkeistudien an der Uni Duisburg-Essen im DLF. Dabei werde die Regierung Erdogan-treue Kräfte bevorzugen.

Gülay Kızılocak im Gespräch mit Michael Böddeker | 20.07.2016
    Blick auf die Marmara-Universität in Istanbul. Im Vordergrund liegt der Hafen mit Containern.
    Blick auf die Marmara-Universität in Istanbul (imago / Westend61)
    Michael Böddeker: Zunächst wurden in der Türkei mehrere tausend Menschen in den Bereichen Militär und Justiz festgenommen und jetzt geht es offenbar im Bereich Bildung weiter. Über 1.500 Hochschuldekane wurden zum Rücktritt aufgefordert, außerdem gab es viele weitere Entlassungen und auch Festnahmen bei türkischen Lehrern, und heute kam noch die Meldung, dass die türkische Hochschulverwaltung allen Akademikern bis auf Weiteres die Ausreise verboten hat. Auf die Entlassungswelle gibt es inzwischen auch Reaktionen. Die europäische Universitätsvereinigung hat das Vorgehen scharf verurteilt. Über das Thema habe ich mit Gülay Kızılocak gesprochen vom Zentrum für Türkeistudien an der Uni Duisburg-Essen, und ich habe sie zunächst nach den Folgen für die türkischen Hochschulen gefragt.
    Gülay Kızılocak: Diese Folgen haben nicht nur die türkischen Hochschulen, wie Sie eben gesagt haben. Die Folgen haben die Gerichtbarkeit, also die Justiz, aber auch natürlich die Militärs. In allen Bereichen werden massenhafte Verhaftungen ... das hat natürlich gravierende Folgen. Wie das Ganze jetzt ausläuft, ist dann in der Türkei eine Frage, was auch vom Westen natürlich mit skeptischer Sorge beobachtet wird.
    Böddeker: Wie kann das denn konkret an den Hochschulen weitergehen, wenn tatsächlich so viele Dekane zum Rücktritt aufgefordert werden? Wie kann das danach weitergehen, wenn plötzlich die Dekane fehlen, also wer sind dann die Nachfolger?
    Kızılocak: Es wird jetzt zügig, wie in anderen Bereichen, die Regierung ... ich meine, man muss das auch hinzufügen – die Rektoren werden ja vom Staatspräsidenten sozusagen ernannt. Es gibt einen verantwortlichen Hochschulrat in der Türkei. Immer noch sind die Universitäten, Hochschulen leider nicht, wie es im Westen ist, unabhängig, und daher werden sofort, denke ich, auch die Nachfolger auch benannt, auch wie es in anderen Bereichen der Fall sein wird. Es wird natürlich schwierig, von heute auf morgen werden keine Nachfolger ernannt, aber die Regierung versucht dann in dieser Hinsicht loyale und treue Nachfolger in allen Bereichen zu ersetzen.
    Böddeker: Haben diese Dekane und die Lehrer in der Türkei überhaupt eine Möglichkeit, sich gegen diese Entlassung oder die Aufforderung zum Rücktritt zu wehren?
    Kızılocak: Nein. Es ist jetzt derzeit nicht der Fall. Wenn dann diese Erklärung vom Hochschulrat rausgekommen ist, sind sie entbunden und können da nichts machen, erst mal nicht.
    Böddeker: Der Vorwurf lautet ja, diese Dekane stünden in Verbindung mit der Gülen-Bewegung oder sie hätten Sympathien dafür. Hat diese Gülen-Bewegung im türkischen Bildungsbereich denn tatsächlich so einen großen Einfluss, wie das jetzt Erdogan sagt?
    Kızılocak: Also die Gülen-Bewegung hat sich vor allem nicht nur natürlich in der Bildung, aber vor allem in der Bildung stark ausgeweitet und sich eingesetzt wie auch in der Wirtschaft, natürlich auch in der Justiz, aber auch in wichtigen staatlichen Sicherheitsapparaten. Diese wurde aber durch viele Maßnahmen, Verhaftungsfälle durch die AKP-Regierung und des Staatspräsidenten Erdogan eigentlich geschwächt und nicht zuletzt auch im Bildungsbereich. Man hat per Gesetz die privaten Schulen, wo die Gülen-Bewegung stark auch vernetzt ist oder ausgeprägt ist, wurden dann tatsächlich auch erst mal per Gesetz verboten diese privaten Schulen, wo man den Schülern und Studenten Unterrichtshilfe anbietet, aber dies wurde dann nachher wieder aufgehoben, sodass in vielen auch privaten Schulen die sogenannten gülennahen Bewegungen auch tatsächlich ihre Vernetzung haben. Das ist immer natürlich eine Begründung, auch eine Ausrede nach diesem Militärputsch, auch im Bildungsbereich diese Säuberung zu betätigen.
    Böddeker: Jetzt hat der türkische Hochschulrat heute auch noch alle Rektoren dazu aufgefordert, ihre Mitarbeiter im Lehrbetrieb und in der Verwaltung auf mögliche Verbindungen zu dieser Bewegung zu überprüfen, aber wie lässt sich denn überhaupt feststellen, ob da jemand eine Verbindung zur Gülen-Bewegung hat.
    Kızılocak: Die Hochschulen sollen ja bis zum 5. August diese Recherchen, Untersuchungen durchführen und entsprechend auch die Verdächtigen, wo man einen kleinen Zweifel hat, an die Regierung mitzuteilen, an die verantwortlichen Stellen. Das ist mir ehrlich gesagt auch sehr, sehr fraglich, nach welchen Kriterien man dann jegliche ... Es geht jetzt in erster Linie darum, denke ich, ob diese Personen überhaupt bis heute einen Schritt gegen die Regierung, gegen den Staatspräsidenten Erdogan in jeglicher Situation, sei es eine Stellungnahme, sei es jetzt in anderen Bereichen, unternommen haben. Nach diesen Kriterien, denke ich, in erster Linie werden dann die Lehrkräfte erst mal untersucht.
    Böddeker: Glauben Sie denn, dass die Rektoren da mitmachen? Also die sind jetzt dazu aufgefordert, ihre Mitarbeiter zu überprüfen und gegebenenfalls zu melden. Werden die das auch tun?
    Kızılocak: Die müssen das tun nach meiner Meinung, denn das ist ja eine Anweisung des verantwortlichen Rats, und die Rektoren sind ja quasi Angestellte, sind untergeordnet unter diesen Hochschulrat, und dann müssen sie dies dann auch tun.
    Böddeker: Das, was gerade in der Türkei passiert an den Hochschulen – wie verändert das die Stimmung oder die Atmosphäre? Also führt das dazu, dass Akademiker eingeschüchtert werden, dass sie ihre Meinungen nicht mehr so frei äußern werden?
    Kızılocak: Das war früher auch der Fall, weil die Hochschullehrer Angehörige ... Sie haben nicht die Freiheit, politische Äußerungen zu geben. Dies wird dann dadurch auch viel, viel verschärft.
    Böddeker: … sagt Gülay Kızılocak vom Zentrum für Türkeistudien an der Uni Duisburg-Essen. Mit ihr habe ich über die Entlassungswelle im Bereich Bildung in der Türkei gesprochen, gegen die jetzt übrigens auch die deutsche Hochschulrektorenkonferenz protestiert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.