Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Türkei
"Erdogan hat seine Möglichkeiten überzogen"

Der türkische Ministerpräsident Erdogan könnte von seiner Partei abgesetzt werden, sagt die ehemalige SPD-Bundesabgeordnete Lale Akgün im DLF. Er habe seine Machtstellung zu stark ausgereizt und führe die Türkei in eine Sackgasse, die auch seine politischen Anhänger nicht möchten.

Lale Akgün im Gespräch mit Gerd Breker | 27.12.2013
    Gerd Breker: Der Korruptionsskandal in der Türkei zieht immer weitere Kreise. Mit einer radikalen Kabinettsumbildung versucht Regierungschef Erdogan, eine der schwersten politischen Krisen seiner fast elfjährigen Amtszeit in den Griff zu bekommen. Doch es scheint, nicht zu gelingen, zumal Erdogan, indem er die Aufdeckung der Korruption als vom Ausland gesteuerte Intrige gegen seine eigene Person verstehen will, Türkeis mächtiger Regierungschef wankt. Inzwischen kommt nicht nur aus dem säkularen Lager die Kritik; diese Aufdeckung der Korruption geht auf das Konto der religiös motivierten Gülen-Bewegung.
    Am Telefon sind wir nun verbunden mit der SPD-Politikerin Lale Akgün. Guten Tag, Frau Akgün.
    Lale Akgün: Guten Tag!
    Breker: Der Austausch von zehn der 26 Minister der Regierung Erdogans zeigt die Dimension der Krise in der Türkei. Aber die ist damit lange noch nicht vorbei?
    Akgün: Nein. Die kann auch nicht vorbei sein, weil im Moment viele unterschiedliche Problemzähne ineinandergreifen. Wir haben den Kampf zwischen den Anhängern von Fethullah Gülen und Erdogan, es ist ein Machtkampf. Wir haben die Korruption und die Aufdeckung der Korruption, wobei natürlich mich stört, dass die Aufdeckung der Korruption eigentlich nur zur Demontage von Erdogan gehen soll, denn es ist ja seit Jahren bekannt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht in der Verquickung von der Regierung mit der Wirtschaft.
    Lale Akgün, SPD-Bundestagsabgeordnete
    Lale Akgün (SPD) (www.laleakguen.de)
    Wir haben das Problem der fehlenden Pressefreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz. Wir haben die Islamisierung der Türkei und wir haben das Kurden-Problem, und da können Sie sich vorstellen, wie der Passant eben sagte: Alles hängt mit allem zusammen. Und da jetzt rauszufinden, ist für Erdogan eigentlich fast unmöglich.
    Breker: Auffällig ist ja, dass Erdogan diese Korruptionsaffäre als Angriff gegen seine eigene Person versteht. Das bedeutet ja, er weiß davon, er wusste davon und er hat es gebilligt.
    Akgün: Ich kann mir nicht vorstellen, so wie die Situation in der Türkei gelagert ist seit Jahren, dass irgendjemand von der Regierung oder in der Nähe von Erdogan sogar atmet, ohne ihn zu fragen. Ich bin überzeugt, dass er über alles informiert ist und dass alles mit seiner Billigung läuft. Es gibt ja auch inzwischen in den sozialen Netzen Telefongespräche, wo angeblich Erdogan mit jemandem spricht, und es hört sich so an, als würde es um Korruption gehen. Die Dinge, die jetzt passieren, sind ihm natürlich bekannt, deswegen auch seine Nervosität, um nicht zu sagen, seine Aggression.
    "Erdogan wollte die Gülen-Bewegung kalt entmachten"
    Breker: Diese Gülen-Bewegung, der man ja die Aufdeckung der Korruption zugeschrieben hat, wie muss man die einordnen? Was ist das genau?
    Akgün: Nun, die Gülen-Bewegung ist natürlich eine genauso islamistische Bewegung, wie die Bewegung von Erdogan. Sie müssen sich vorstellen, dass die türkische Regierung im Moment aus zwei islamistischen Lagern zusammengesetzt ist. Der eine Teil ist die Milli-Görüs-Bewegung, auch in Deutschland bekannt, zu der zählt auch Erdogan. Nicht umsonst heißt einer seiner Söhne Necmettin wie Necmettin Erbakan, auch in Deutschland gut bekannt. Und der andere Teil ist eben die Fethullah-Gülen-Bewegung, eine andere Sekte, die Norculuk-Sekte, die Licht-Sekte, und diese beiden Teile haben sich eigentlich den Kuchen gut aufgeteilt gehabt in der Türkei. Während die Fethullah-Gülen-Bewegung sich mehr auf die Bildung konzentriert hat, aber nicht Bildung im Sinne aufgeklärter Bildung, sondern im Sinne der islamischen, islamistischen Bildung, hat sich die Erdogan-Seite mehr auf die weltliche Macht konzentriert, aber man hat sich ergänzt. Zum Bruch kam es, als vor wenigen Tagen, möchte man sagen, gar nicht mal Wochen, Erdogan wohl mal hat sich durchrechnen lassen, wie es wäre, ohne Fethullah Gülen an der Macht zu sein, und es kursierten Zahlen um die fünf Prozent an Verlust an Stimmen. Da hat er gesagt, auf die fünf Prozent kann ich gut verzichten, und wollte die Gülen-Bewegung kalt entmachten, dadurch, dass er ihnen ihre Existenzgrundlage entziehen wollte, nämlich das Verbot der Schulen und der Nachhilfeinstitutionen von Erdogan. Aber er hat wohl vergessen gehabt, dass er über zehn Jahre und noch länger dafür gesorgt hat, dass gut gebildete Fethullah-Gülen-Anhänger an bestimmten Schlüsselpositionen der Wirtschaft, der Justiz und der Exekutive sitzen.
    "Erdogan hat die falschen Freunde"
    Breker: Frau Akgün, diese Gülen-Bewegung, das ist ja keine Partei. Nimmt man es politisch, dann hat die AKP ja eigentlich in der Türkei gar nichts zu fürchten. Die Opposition ist zerstritten, da ist keine Alternative von den Parteien aus gesehen zur AKP. Kann es sein, dass die AKP sich nun überlegt, ob es nicht sinnvoll ist, sich von seinem einstmals populären Frontmann Erdogan zu trennen?
    Akgün: Nun, das ist sicherlich auch möglich. Nur Sie müssen sich vorstellen: Natürlich ist die Fethullah-Gülen-Bewegung keine Partei. Aber die Milli-Görüs-Bewegung ist auch keine Partei. Zusammen ergeben sie die AKP. Sie dürfen nicht vergessen, dass der Staatspräsident Abdullah Gül ein Anhänger von Fethullah Gülen ist. Das heißt, man hatte sich wirklich gut arrangiert miteinander, und jetzt ist die große Frage: Jetzt hängt sich ja Erdogan immer mehr aus dem Fenster. Er fängt bestimmte Übergriffe an, er greift die USA an, er greift schon seit Langem Israel an, er hat die falschen "Freunde", möchte ich sagen, indem er zum Beispiel immer noch von Mursi träumt und von der ägyptischen islamischen Regierung. Man kann natürlich sich vorstellen, dass man sagt, Erdogan schadet uns inzwischen, wie wäre es, wenn wir Erdogan eliminieren. Der nächste, der jetzt natürlich da sitzen würde und seinen Platz einnehmen würde, wäre Abdullah Gül, der Staatspräsident, beziehungsweise man kann sich vorstellen, dass natürlich auch in der zweiten Reihe bei der AKP Menschen da sind, die durchaus in der Lage sind, seine Position einzunehmen. Das war ja das Problem die ganze Zeit, dass alle gedacht haben, Erdogan ist alternativlos, aber sie haben jetzt gemerkt, er hat wirklich selber daran geglaubt, dass er alternativlos ist, und hat es einfach überzogen. Er hat seine Möglichkeiten überzogen. Er bringt die Türkei in eine Sackgasse rein, und das möchten auch die nicht, die eigentlich gar nicht so weit von ihm sind, politisch und religiös.
    "Die Gezi-Bewegung begreift sich nicht als politische Macht"
    Breker: Wir erleben gerade einen Machtkampf sozusagen im religiösen Lager. Aber es gibt ja auch massive Kritik mit der Gezi-Bewegung von säkularer Seite. Was bedeutet das für die Türkei?
    Akgün: Ich denke, das ist natürlich noch mal die andere Seite der Medaille. Es gibt ja genügend Leute, die sagen, die Alternative zu Erdogan kann nicht Fethullah Gülen oder können nicht seine Anhänger sein. Wir wollen nicht die Nummer Eins, nicht die Nummer zwei, wir wollen die Nummer drei, schreien hier junge Leute. Man muss sich vorstellen: Fethullah Gülen würde an die Macht kommen, oder wenn seine Leute an der Macht wären - das sind sie ja schon bereits, aber wenn er der erste Mann wäre -, dass sie vielleicht ein wenig sanfter mit den Dingen umgehen. Aber letztendlich sind sie natürlich genauso islamistisch und würden das, was persönliche Freiheiten von Menschen angeht, genauso unterdrücken wie Erdogan und seine Leute. Das heißt, die Gezi-Bewegung ist die eigentliche liberale Bewegung von Menschen, die Wert legen auf individuelle Freiheiten und sagen, wir möchten nicht mehr unter dem Druck von bestimmten Organisationen leben und religiösen Sekten. Das Problem ist bei der Gezi-Bewegung, dass sie sehr, sehr, sehr zerstritten ist beziehungsweise dass sie aus sehr, sehr vielen kleinräumigen Gruppen besteht. Wenn die sich einig werden würden, wäre es eine Alternative, eine ernsthafte Alternative, und sie würden sicherlich, auch wenn sie eine Partei gründen würden, die Zehn-Prozent-Hürde überspringen und würden ins Parlament kommen. Aber da sie im Moment dabei sind, nur zu diskutieren, sehe ich die Gefahr, dass sie gar nicht in der Lage sind, sich als politische Macht zu begreifen.
    Breker: Zur Lage in der Türkei war das ein Gespräch mit der SPD-Politikerin Lale Akgün. Frau Akgün, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.
    Akgün: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.