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Türkei
"Kampf gegen den IS ist Paradigmenwechsel"

Dass die Türkei gegen den "Islamischen Staat" vorgehe, stelle eine neue Strategie dar, sagte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik im DLF. Bei ihrem Schulterschluss mit Ankara würden sich die USA auf diesen Kampf fokussieren - und die Kurdenfrage dabei bewusst abkoppeln.

Markus Kaim im Gespräch mit Thielko Grieß | 28.07.2015
    Mitglieder der kurdischen YPG fahren durch Al-Nashwa im Nordosten Syriens.
    Mitglieder der kurdischen YPG fahren durch Al-Nashwa im Nordosten Syriens. (AFP / Delil Souleiman)
    Thielko Grieß: Am Telefon begrüße ich jetzt Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik, ein Thinktank, eine Beratungsorganisation in Berlin. Herr Kaim, guten Tag!
    Markus Kaim: Ich grüße Sie!
    Grieß: Wir haben es gehört in den Informationen aus Istanbul - der türkische Präsident Erdogan hat den Friedensprozess mit der PKK praktisch für beendet erklärt. Was bedeutet das jetzt? Ist das nur sozusagen das offizielle Siegel dessen, was wir in den vergangenen Tagen ohnehin schon gesehen haben?
    Kaim: In der Tat würde ich das auch sehen. Ich glaube, wer die Entwicklung in den letzten Monaten verfolgt hat, die türkische Haltung gegenüber den Bemühungen der syrischen Kurden, ein eigenes Territorium im Norden Syriens zu sichern, der konnte sich keinen Illusionen hingeben, dass die Türkei aktiv dagegen vorgeht gegen den Kernbestand eines kurdischen Staates, und das ist ja besonders deutlich geworden an der mangelnden Unterstützung der türkischen Streitkräfte bei der Verteidigung von Kobane vor wenigen Monaten. Dementsprechend ist es, glaube ich, oder haben sich viele westliche Regierungen einer Illusion hingegeben, dass es hier deckungsgleiche politische Interessen gebe. Die Türkei kämpft mittlerweile gegen den IS, geht aktiver gegen den IS vor, das ist wirklich der Strategiewechsel oder der Paradigmenwechsel der letzten Woche, aber dass die Türkei einen Kurdenstaat in Nordsyrien ablehnt, das ist ein Kontinuum ihrer Politik.
    "In der deutschen Politik ist eine gewisse Ambivalenz festzustellen"
    Grieß: Hat sich auch die deutsche Bundesregierung dieser Illusion zu lange hingegeben?
    Kaim: Zumindest ist die deutsche Politik in dieser Frage etwas uneindeutig. Ich meine, die Frage eines Kurdenstaates, die bemisst sich ja nicht nur an der Situation in Nordsyrien, sondern auch im Nordirak, wo die Bundesregierung mit der Ausrüstungsmission und Unterstützungsmission der Bundeswehr ja sozusagen einen nicht-staatlichen Akteur dabei unterstützt, mindestens Autonomie zu erlangen oder mit einer mittel- und langfristigen Perspektive sogar Eigenstaatlichkeit zu erlangen, von daher ist die Kurdenfrage damit noch gar nicht beantwortet. Und gleichzeitig hält die Bundesregierung aber an der territorialen und staatlichen Einheit des Irak fest, also auch in der deutschen Politik ist eine gewisse Ambivalenz in dieser Frage festzustellen.
    Grieß: Die Sicherheitszone, die im Gespräch ist im Norden Syriens, die favorisiert wird von der Türkei, als auch von den Vereinigten Staaten, ist also primär nicht eine Sicherheitszone, die Flüchtlingen als Unterkunft und Unterschlupf dienen sollte, sondern sie ist ein Verhinderungsmechanismus.
    Kaim: In der Tat, sie erfordert verschiedene Funktionen und obgleich viele Details dieser Zone ja noch gar nicht klar sind - also die Abmessung, da gibt es unterschiedliche Angaben zu, ich gehe mal davon aus, dass sie etwa 100 Kilometer lang sein wird und eine Tiefe von etwa 60 Kilometern haben wird, aber sie soll nicht von türkischen oder gar amerikanischen Bodentruppen besetzt und kontrolliert werden, sondern von den sogenannten moderaten syrischen Kräften. Wo diese eigentlich herkommen sollen, wer diese sein sollen, ist bisher völlig ungeklärt. Und es drängt sich wirklich der Eindruck auf, den Sie auch angedeutet haben, dass es vor allem darum geht, eine Art Pufferzone zwischen Syrien und die Türkei zu legen, um Flüchtlingsbewegungen einzuhegen, aber vor allen Dingen eben auch, um das Entstehen eines syrischen Kernstaates zu verhindern.
    Und ob dann tatsächlich auch dieser angestrebte Effekt eintreten wird, dass viele syrische Flüchtlinge in dieses Gebiet flüchten werden beziehungsweise zurückkehren werden, bleibt erst mal abzuwarten. Und völlig offen ist die Frage einer mittel- und langfristigen Perspektive. Sollte sich dieser Zustand dann verfestigen, steht die Frage im Raum, welchen völkerrechtlichen Status bekommt denn dieses Gebiet. Ist es dann ein Teil einer Provinz Syriens oder sprechen wir von einer Form von Eigenstaatlichkeit in einer langfristigen Perspektive?
    "Beide Länder stehen vor den Trümmern ihrer Politik"
    Grieß: Wir haben es angesprochen - es gibt Anzeichen dafür, dass dieser Strategieschwenk Ankaras abgesprochen ist und koordiniert ist mit Washington, mit den Vereinigten Staaten. Sehen Sie es so, dass Washington und Ankara die übrigen NATO-Länder mit ihrem Schwenk jetzt einfach überrollen?
    Kaim: Ob sie sie überrollen, das vermag ich nicht zu beurteilen, aber es ist eigentlich deutlich, dass beide Länder vor den Trümmern ihrer Politik der letzten Monate stehen und jetzt eine neue Strategie verfolgen. Der Türkei ist es eben nicht gelungen, ihr primäres Ziel zu erreichen, Präsident Assad abzulösen und den USA ist es eben nicht gelungen, wirksam gegen den IS vorzugehen. Und ob es jetzt zu einem Deal zwischen beiden Parteien gekommen ist, wie jetzt gemunkelt wird, das kann ich nicht beurteilen. Ich glaube, das können viele externe Beobachter auch gar nicht beurteilen, aber wir haben festgestellt, dass es jetzt zu einer Interessenkongruenz insofern gekommen ist, zu sagen, dass beide Staaten gegen den IS aktiv vorgehen. Die Türkei tritt letztlich in die internationale Allianz gegen den IS mit militärischen Fähigkeiten auch ein.
    Und wenn ich die Wortmeldung aus Washington richtig interpretiere, versucht man ja die Frage eines Kurdenstaates möglichst nicht zu thematisieren, also die Frage des IS von der Frage eines Kurdenstaates ganz bewusst abzukoppeln. Dementsprechend fokussiert sind die USA auf IS, Präsident Erdogan nach wie vor auf einen Sturz Assads, und die Kurdenfrage - zumindest, was den syrischen Teil des Konfliktgebietes betrifft - wird auf absehbare Zeit erst mal nicht auf der Tagesordnung stehen.
    Grieß: Und die Kurden in den verschiedenen Staaten der Region müssen damit leben, dass die einst als Hoffnungsanker dienten und sich mit ihren Leuten dem IS entgegengestellt haben und nun fallen gelassen werden von den USA und der NATO.
    Kaim: Zumindest was den syrischen Teil des Konfliktgebietes anbetrifft, fürchte ich, ist Ihre Analyse zutreffend. Für den irakischen Teil würde ich die Situation anders bewerten. Hier haben wir es mit einem ... Letztlich ist das kurdische Gebiet im Nordirak wirtschaftlich prosperierend, politisch stabil, letztlich auf dem Weg zu einer Form der politischen Unabhängigkeit von dem Irak. Das angestrebte, bereits angesetzte Referendum ist ja nur ausgesetzt worden, und auch die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die militärischen Fähigkeiten der Peschmerga im Nordirak zu unterstützen, an dem auch die Bundeswehr beteiligt ist, wird diesem Momentum in Richtung Unabhängigkeit sicher weiter Schwung verschaffen, und dementsprechend würde ich nicht ausschließen wollen, dass wir in den nächsten Jahren eine mindestens verstärkte politische Autonomie der Kurden im Nordirak sehen, bis hin zu einer Unabhängigkeit.
    "Der IS hat die Grenze zwischen dem Irak und Syrien faktisch aufgelöst"
    Grieß: Sie sprechen von diesen verschiedenen Regionen und den verschiedenen Gruppierungen innerhalb der Kurden, aber ist das nicht eine akademische Unterteilung, und entspricht das eigentlich überhaupt nicht der Situation on the ground, also am Boden?
    Kaim: Nein, es trifft insofern, weil die Lage oder anders - wir haben ja letztlich, wenn wir von Syrien und dem Irak sprechen, vor allen Dingen über das Bindeglied IS diskutieren, dann haben wir ja letztlich ein einziges Kriegsgebiet, also der IS hat die Grenze zwischen dem Irak und Syrien faktisch aufgelöst, beherrscht ein Drittel des Iraks und ein Drittel Syriens, und die internationale Gemeinschaft tut sich ja gerade so schwer, eine Strategie für diese beiden zwar isoliert erscheinenden Kriegsgebiete, aber letztlich ein Kriegsgebiet darstellen, zu entwickeln.
    Und eins der grundsätzlichen Probleme ist ja eben, dass die Militärschläge gerade gegen den IS in weiten Teilen bislang nur im Irak erfolgt sind und in Syrien nicht in dem gleichen Maße. Aber ich glaube, eine kohärente Strategie der internationalen Gemeinschaft muss beide Gebiete gleichermaßen in Rechnung stellen, auch wenn es eben da zu dieser Ungleichbehandlung der Kurden in Syrien, ungleich der im Irak kommt.
    Grieß: Sagt Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Herr Kaim, ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche noch einen schönen Tag!
    Kaim: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.