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Türkei nach dem Anschlag
"Gegen den IS und gegen die Kurden"

Nach dem Attentat in Istanbul befindet sich die Türkei in einem Zwei-Fronten-Krieg - so der Sicherheitsexperte Markus Kaim. Im Deutschlandfunk sagte er, die Türkei kämpfe zurzeit sowohl gegen den IS als auch gegen die Kurden. Sie sei stabil genug, um die Lage zu meistern. Fraglich sei aber, ob die Türkei die Verpflichtungen einhalten wird, die sie gegenüber der EU im Kontext der Flüchtlingskrise eingegangen ist.

Markus Kaim im Gespräch mit Christine Heuer | 14.01.2016
    Polizeikräfte nahe der Blauen Moschee in Istanbul.
    Polizeikräfte nahe der Blauen Moschee in Istanbul. (AFP - Bülent Kilic)
    Christine Heuer: Den Anschlag in Istanbul auf eine deutsche Touristengruppe hat die Türkei noch lange nicht verbunden, und schon gibt es ein neues Attentat, diesmal im kurdischen Südosten des Landes. Während die Regierung in Ankara für den Istanbul-Anschlag den IS verantwortlich macht, steckt hinter dem Angriff auf eine Polizeistation in der Provinz Diyarbakir nach Behördenangaben die PKK.
    Die Welt ist in einem schlechten Zustand. Auch in Indonesien hat es heute Früh ein Attentat gegeben. Die Täter sollen sich im Zentrum der Hauptstadt Djakarta in die Luft gesprengt haben. Andere sollen danach das Feuer auf ein Starbucks-Café eröffnet haben. Wer hinter diesen Gewaltakten steckt ist noch nicht bekannt. Es soll aber im Vorfeld eine Drohung des IS gegeben haben, Indonesien anzugreifen.
    Am Telefon begrüße ich Markus Kaim, den Sicherheitsexperten bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Guten Tag, Herr Kaim.
    Markus Kaim: Guten Tag, Frau Heuer. Ich grüße Sie.
    Heuer: Wie plausibel ist es, dass der IS die Attentate in Djakarta verübt hat?
    Kaim: Ob der IS hinter den Attentaten von heute Morgen steht, kann ich aus der Distanz und nach der gegenwärtigen Informationslage nicht beurteilen. Aber in der Tat - das ist im Beitrag ja kurz angedeutet worden: Indonesien hat eine Geschichte des islamistisch inspirierten Terrorismus, vor allen Dingen in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, beginnend mit 2002 bis 2009. Vielen Hörern werden sicherlich noch die großen Anschläge auf Bali im Jahr 2002 in Erinnerung sein, und es gab eine Vielzahl von kleineren Anschlägen, und gipfelte in einem Doppelanschlag auf Hotels in Djakarta im Jahr 2009. Und danach ist es gelungen, den Islamismus wieder kurzfristig einzuhegen, allerdings nicht auszumerzen, wenn ich das so sagen darf. Die Zahlen schwanken, aber zwischen 300 bis 700 Indonesier haben sich auf den Weg nach Syrien und in den Irak gemacht, für den IS zu kämpfen, und das illustriert, dass diese Brutstätte des islamistischen Terrorismus nach wie vor aktiv ist, auch wenn es zu Anschlägen in Indonesien selber in den letzten Jahren nicht gekommen ist.
    "Indonesien steht für etwas, was der IS ablehnt"
    Heuer: Versucht der IS, sich nach Südostasien auszubreiten? Kann man das so sagen?
    Kaim: Der IS versucht, sich im globalen Maßstab auszubreiten. Im vergangenen Jahr haben wir das ja an vielen Stellen gesehen. Die bekannteste oder augenfälligste Ausweitung ist die in Libyen, wo der IS weite Landstriche kontrolliert, sozusagen eine weitere Domäne errichtet hat. Wir sehen das in geringerem Maßstab in Afghanistan, wo der IS versucht, Fuß zu fassen, sozusagen als Alternative zu den Taliban. Vor diesem Hintergrund würde es jetzt nicht sonderlich verwundern, wenn der IS diesen alten Pfad des islamistischen Terrorismus in Indonesien auch wieder versucht zu beleben. Weil das muss man sich ja immer vergegenwärtigen: Indonesien war damals ein symbolisch attraktives Ziel, weil es ist das größte muslimische Land der Erde, dennoch säkular mit großen Minderheiten von Christen und Hindus. Es steht in besonders repräsentativer Weise eigentlich für etwas, was der IS ablehnt, nämlich das halbwegs friedvolle Zusammenleben von Ethnien und Religionen und für eine mehr oder minder funktionierende Demokratie westlicher Prägung.
    Heuer: Wie schätzen Sie den Anschlag in Istanbul ein, Herr Kaim? War das, wie die türkische Regierung sagt, der IS? Wir haben das gerade noch mal von unserem Korrespondenten Thomas Bormann gehört, der das für ziemlich zweifelsfrei hält. Aber es scheint ja doch Zweifel an der Täterschaft des IS zu geben in Istanbul?
    " Das ist nicht die Handschrift der PKK"
    Kaim: Ich kann auch nur etwas meine eigene Ratlosigkeit zu Protokoll geben. Ich habe auch zu denjenigen gehört, die sehr verwundert waren, dass die türkische Regierung innerhalb von wenigen Stunden bereits ganz sicher gewesen ist über die Urheberschaft, den Täter auch mit Namen präsentieren konnte. Allerdings fallen die Alternativerklärungen relativ dünn aus. Man hätte noch in die Richtung der Kurden schauen können. Kurdische Attentate der letzten Jahrzehnte haben sich allerdings in der Regel auf staatliche Stellen gerichtet, Kasernen, Soldaten, Generalkonsulate und anderes mehr, niemals auf zivile Opfer, wie wir das jetzt gesehen haben. Das ist sozusagen nicht die Handschrift der PKK. Gleiches gilt für andere radikale, linksradikale türkische Gruppierungen. Von daher mangelt es an besseren Alternativen, hat die These mit dem IS eine gewisse Plausibilität, vor allen Dingen, wenn man fragt, wem dient das Ganze denn. Da kann man ja durchaus zwei Stoßrichtungen vermuten: Erstens in Richtung der Türkei selber im Sinne einer politischen Destabilisierung der Türkei und mit dem wirtschaftlichen Argument, dass die Tourismus-Branche in besonderer Art und Weise getroffen werden soll, und die zweite Stoßrichtung wäre die gegenüber Deutschland, sozusagen ein Racheakt für das stärkere militärische Engagement Deutschlands, das militärische Engagement meine ich Deutschlands im Kontext der Syrien-Krise. Wenn man der Motivlage traut, dann würde das plausibel sein.
    Heuer: Istanbul trägt die Handschrift des IS. Gleichzeitig erleben wir heute einen Anschlag im Südosten der Türkei, in den Kurden-Gebieten, der die Handschrift der PKK trägt. Ist die Türkei im Zwei-Fronten-Krieg im Moment?
    Kaim: In der Tat! Der Friedensprozess mit den Kurden, den man etwa grob lokalisieren kann aus den Jahren 2012 bis zum Sommer vergangenen Jahres, wo es ja bemerkenswerte Fortschritte gegeben hat in der Aussöhnung zwischen der PKK und der türkischen Regierung, der Ankündigung eines Waffenstillstands durch Öcalan, dem Vorsitzenden der PKK, dieser Friedensprozess ist de facto tot. Wir sehen eine bedrückende Situation gerade jetzt im Südosten der Türkei, Sie haben es angesprochen, mit Hunderten von Toten in den vergangenen Wochen, mit Städten, die de facto abgeriegelt sind, wo auch die internationale Presse keinen Zugang hat. Und gleichzeitig ist die Zeit des Zickzack-Kurses gegenüber dem IS von türkischer Seite auch vorbei. Die Türkei hat ja den IS nicht ganz aktiv unterstützt, aber doch eine Politik eingeschlagen des wohlwollenden Wegschauens, weil der IS als nützlicher Verbündeter im Kampf gegen Präsident Assad gegolten hat. Es heißt, IS-Kämpfer sind auf türkischem Territorium medizinisch versorgt worden, es gibt Berichte über Waffenlieferungen und anderes mehr, und diese Zeit ist vorbei. Jetzt kämpft angesichts der destabilisierenden Wirkung des IS die Türkei sowohl gegen den IS als auch die Kurden. Die Betrachtung ist völlig richtig.
    "Die politische Souveränität der Türkei ist nicht in Frage gestellt"
    Heuer: Die Türkei ist unser Nachbar. Sie ist besonders wichtig in der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union und sie wird zunehmend destabilisiert. Welche Folgen, Herr Kaim, kann das für Europa haben?
    Kaim: Im unmittelbar sicherheitspolitischen Sinne erst einmal keine, weil die Türkei zumindest noch so stabil erscheint, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, dass hier deren NATO-Fall in Betracht kommt. Die territoriale Integrität und politische Souveränität der Türkei ist nicht in Frage gestellt. Allerdings ist die Frage der politischen Handlungsfähigkeit der Türkei doch zumindest in Zweifel zu ziehen, ob sie all ihre Verpflichtungen einhalten wird, die sie gegenüber der Europäischen Union im Kontext der Flüchtlingskrise eingegangen ist. Das heißt, sie hat sich ja verpflichtet für größere Rückzugsmaßnahmen oder Rücknahmemaßnahmen von Flüchtlingen, die aus der Türkei gekommen sind. Ob sie angesichts dieser Situation noch daran Interesse haben wird, sei einmal dahingestellt. Und insbesondere kommt ja hinzu, dass die drei Milliarden Euro, die die Europäische Union der Türkei für diese Maßnahmen geben wollte, noch gar nicht generiert worden sind und die große Frage im Raum steht, ob dieses Geld jemals zusammenkommt.
    Heuer: Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Kaim, haben Sie vielen Dank.
    Kaim: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.