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Türkei nach dem Referendum
Erdogan zwingt die EU zu schwierigen Entscheidungen

Der Umbau der Türkei in ein autokratisches System wird in Brüssel und Berlin mit Sorge verfolgt, aber auch von gut 50 Prozent der türkischen Bevölkerung - der Wahlausgang war knapp. In jedem Fall muss die EU nun einen Weg finden, mit dem erstarkten Erdogan auszukommen - ohne ihre Werte zu verleugnen.

Von Kai Küstner | 18.04.2017
    Präsident Erdogan spricht in ein Mikrofon und formt seine rechte Hand zu einer Faust
    Die EU wird einen Weg finden müssen, mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, dem 'starken Mann am Bosporus', auszukommen. (ADEM ALTAN / AFP)
    Gratulations-Botschaften klingen anders: Knochentrocken gaben sich EU-Kommission und auswärtiger Dienst der Europäischen Union in ihrer ersten Stellungnahme zu Erdogans hauchdünnem Abstimmungs-Sieg.
    Und forderten den türkischen Präsidenten, eben weil es so knapp war, dazu auf, den "breitestmöglichen nationalen Konsens" zu suchen. Ansonsten hält sich die Europäische Union zunächst weiter alle Türen offen. Und schlägt auch vorerst jene nicht Ankara vor der Nase zu, auf der "EU-Beitritt" steht.
    "Es wird keine weiteren Beitrittsgespräche mit Erdogan geben"
    Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, David McAllister dagegen meint:
    "Angesichts der Negativ-Entwicklungen in der Türkei in Richtung Autokratie macht es keinen Sinn, die Beitrittsverhandlungen gegenwärtig fortzuführen. Eine EU-Mitgliedschaft für Ankara ist nicht der richtige Weg. Andere Formen der Kooperation sind sinnvoller."
    So der CDU-Politiker im Gespräch mit dem ARD-Europastudio Brüssel. Der Außenpolitik-Experte der Grünen, Reinhard Bütikofer, verweist darauf, dass die Gespräche ja bereits praktisch auf Eis lägen. Die würden nun wohl vom Eisfach in die hinterste Ecke der Tiefkühltruhe wandern:
    "Jedenfalls wird es mit Erdogan, da bin ich mir sicher, keine weiteren Beitrittsgespräche geben", vermutet Bütikofer im ARD-Hörfunk-Interview. Eine taktisch nicht unerhebliche Frage ist, ob die EU von sich aus die Verhandlungen aktiv einzufrieren gedenkt. Worauf auch die ersten Reaktionen der Bundesregierung nicht schließen lassen. Oder ob die EU es Erdogan überlässt, die Pause- oder gar Stop-Taste zu drücken.
    Kritiker hatten stets gewarnt, ein Anhalten der Gespräche würde der Opposition im Land nicht nützen und dazu noch dem Präsidenten einen Propaganda-Erfolg auf dem Silbertablett servieren.
    Bütikofer (Grüne): Erdogan hat sich gegen den Westen entschieden
    In jedem Fall aber sehen EU-Politiker in dem Referendum einen tiefen historischen Einschnitt: Wie schon Staatsgründer Atatürk habe Erdogan seinen Landsleuten die Frage gestellt, so Bütikofer, ob sie sich nach Westen orientieren wollten:
    "Erdogan hat sich dagegen entschieden. Aber 50 Prozent der türkischen Bevölkerung offenbar nicht."
    So der EU-Parlamentarier mit Blick auf den knappen Ausgang der Volksbefragung. Nun gelte es zu verhindern, dass sich das ganze Land in die von Erdogan vorgesehene Richtung entwickle.
    "Die Türkei ist auf Know-how-Transfer angewiesen"
    Dass man mit dem Nachbarn und NATO-Mitglied Türkei weiter zusammenarbeiten muss und wird, steht ohnehin für kaum jemanden in Frage, so Alexander Graf Lambsdorff:
    "Das gilt für die Lösung des Syrien-Konflikts, das gilt für die Flüchtlingsfrage. Aber auch für Zusammenarbeit in der Energiepolitik und Wirtschaft."
    Beitrittsgespräche abbrechen, Gespräche über die Vertiefung der Zollunion – die Handelshemmnisse abbaut - dafür vorantreiben, so lautet denn auch das Motto des EU-Parlaments-Vizepräsidenten Graf Lambsdorff. Der zwar durchaus meint, die Türkei habe sich mit dem Referendum gegen einen EU-Beitritt entschieden. Aber nicht unbedingt gegen den Westen an sich:
    "Sie ist wirtschaftlich auf den Markt Europa angewiesen. Sie ist auf Know-how-Transfer angewiesen. All das hat Russland nicht zu bieten, andere Weltregionen auch nicht."
    EU muss mit dem 'starken Mann am Bosporus' auskommen
    In jedem Fall aber zwingt der nun mit noch mehr Muskelkraft ausgestattete Erdogan die Europäische Union zu schwierigen Entscheidungen: Ohne sich und ihre Werte zu verleugnen, wird sie einen Weg finden müssen, mit dem 'starken Mann am Bosporus' auszukommen.
    Denn gebraucht wird die Türkei so oder so. Nicht zuletzt wird man von EU-Seite versuchen, den im Westen so viel kritisierten und von Erdogan so oft als Druckmittel eingesetzten Flüchtlingspakt zu retten.
    Der EU-Parlamentarier David McAllister wünscht sich jedenfalls, dass die türkische Regierung nun nach Ende des Wahlkampfs im Ton abrüstet und, wie er es ausdrückt, aufhört, "haltlose Drohungen in Richtung EU-Staaten auszusenden."