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Türkei nach dem Terror
"Ankara schwimmen alle Felle davon"

Nach den Anschlägen von Ankara könne die Regierung nicht mehr - wie bislang - verhindern, dass der Kurden-Konflikt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt, sagte Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, im DLF. Zudem habe die Türkei außenpolitisch ein "riesiges Problem".

19.02.2016
    Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (l.) und Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Trauerfeier für einen Soldaten, der Opfer eines Terrorangriffs wurde
    Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (l.) und Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Trauerfeier für einen Soldaten, der Opfer eines Terrorangriffs wurde (picture alliance/dpa/Tolga Bozoglu)
    Christoph Heinemann: Vor dieser Sendung haben wir Christian Brakel in Istanbul erreicht, dort selbst Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung. Herr Brakel, die Opfer sind noch nicht begraben, da sind die Verantwortlichen des Anschlags schon ausgemacht. Überrascht Sie das Tempo?
    Kristian Brakel: Prinzipiell nicht. Die türkische Regierung ist im Moment unter einem großen Druck. Es ist ja der x-te Terroranschlag innerhalb kurzer Zeit. Es hat ja im letzten Jahr sehr viele gegeben, es hat im Januar diesen Jahres einen gegeben auf diese deutsche Touristengruppe. Es ist eine politische Situation auch, in der es natürlich auch für die türkische Regierung, gerade da man kurdische Gruppierungen verantwortlich macht, durchaus angenehm ist, schnell einen Verdächtigen zu haben.
    Heinemann: Benötigt Erdogan einen inneren Feind, nämlich die Kurden, um politische Stabilität in seinem Sinne zu erreichen?
    Brakel: Im Prinzip benötigt er die Kurden als inneren Feind zurzeit nicht. Er hat sie benötigt während des Wahlkampfes, als es darum ging, die enormen Stimmverluste seiner AKP-Partei vom Juni bis zur Neuwahl im November wieder wettzumachen. Jetzt wäre es eigentlich im Sinne der Regierung, wenn wieder Ruhe einkehren würde, aber das ist natürlich jetzt nach dem allen, was passiert ist, sehr schwierig herzustellen.
    Heinemann: Die USA unterstützen die YPG im Nordirak, die Erdogan bekämpft. Deutschland unterstützt nordirakische kurdische Peschmerga. Wie wird das in der Türkei bewertet?
    Brakel: Die Unterstützung für die Peschmerga ist prinzipiell kein Problem. Die nordirakische Regionalregierung ist ja eine Regierung, mit der die Türkei seit vielen Jahren sehr gute und sehr enge Beziehungen pflegt. Das ist eine andere Partei, eine andere politische Strömung der Kurden als die PKK und die mit ihr verbündete PYD beziehungsweise YPG in Syrien. Die Unterstützung der Amerikaner stößt auf sehr viel Kritik. Die türkische Regierung hat in den letzten Tagen wiederholt gefordert, dass die Amerikaner sich endlich klar entscheiden müssen: entweder die Türkei als Bündnispartner, oder die syrischen Kurden, denn dort sieht man wie gesagt die starken politischen und auch militärischen Verbindungen zur PKK.
    "Der Präsident sitzt sehr fest im Sattel"
    Heinemann: Die Botschaft der Attentäter ist ja klar: Die Türkei ist verwundbar. Kann das für Erdogan zum Problem werden?
    Brakel: Es ist für die Regierung schon zum Problem geworden. Wie gesagt, es gab im letzten Jahr und auch in diesem Jahr schon mehrere schwere Anschläge. Die militärischen Operationen, die im Südosten in den Kurdengebieten gegen PKK-Milizen laufen, sind bisher ja Operationen, die größtenteils auf die Kurdengebiete beschränkt sind. Je mehr die Gewalt sich ausweitet, je mehr die Gewalt auch auf den Rest des Landes überspringt, auch in den Westen kommt, desto mehr rückt der Konflikt natürlich auch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, aus dem die Regierung bisher versucht, ihn möglichst herauszuhalten, indem man Medien zensiert, indem man diejenigen, die versuchen, diese Berichterstattung zu betreiben, kriminalisiert. Das wird sich natürlich mit diesen Anschlägen ändern.
    Heinemann: Und kann das für Erdogan politisch gefährlich werden?
    Brakel: Der Präsident - und es ist auch nicht nur der Präsident, sondern die ganzen Regierungsparteien -, die AKP sitzt nach den Wahlen sehr fest im Sattel. Es gibt eigentlich keine ernst zu nehmende Opposition, die ihn gefährden könnte. Aber die Türkei hat natürlich außenpolitisch ein riesiges Problem. Das betrifft vor allen Dingen Syrien. Ihr schwimmen alle Felle davon. Es gibt sehr wenig Möglichkeiten für sie, noch eine Einwirkung auf den Konflikt in Syrien zu nehmen. Sie sieht mit Schrecken, dass das, was sie den Europäern, den Amerikanern seit mehreren Jahren gesagt haben, nämlich wenn man nicht militärisch eingreift, dann werden die Russen, dann wird das Assad-Regime militärisch wieder die Oberhand gewinnen, dass genau das jetzt passiert, und das hat natürlich nicht nur ideologische Probleme zur Folge, sondern das hat natürlich auch ganz starke Sicherheitsverwerfungen für die Türkei. Und ich denke, das sollte man auch mal dazu sagen. Bei aller Kritik, die man auch gerade innenpolitisch am Erdogan-Regime, aber auch außenpolitisch aufgrund der Syrien-Politik üben muss, die PKK und auch die mit ihr verbündete YPG, das sind natürlich keine einfachen Akteure. Man kann darüber streiten, ob es wirklich Terrorgruppen sind, aber es sind natürlich schon Gruppen, denen schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, nicht nur von der türkischen Regierung, sondern etwa von Amnesty International, ethnische Säuberungen in Syrien, aber auch durchaus Gewaltherrschaft in den von ihnen kontrollierten kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei.
    Heinemann: Wenn man alles mal zusammennimmt, Probleme mit den Kurden, neuerdings offenbar auch mit der Terrorbande IS, dann natürlich mit seinem Alter Ego Putin, hat sich Erdogan übernommen?
    Brakel: Ganz sicher, und das ist ein sehr, sehr großes Problem, dass die türkische Politik inzwischen eigentlich nur noch auf eine Person zugeschnitten ist, gerade die Außenpolitik, die sehr, sehr stark von der Person des Präsidenten abhängig ist. Es gibt zwar andere politische Spieler, gerade den Premierminister Davutoglu, der hin und wieder durchaus versucht, konziliantere Töne anzuschlagen, aber im Prinzip das politische Gravitationszentrum ist Erdogan. Und die Außenpolitik, die sehr ideologisch getrieben war, zum Teil auch durchaus in einer Form, die vielleicht durchaus positive Absichten gehabt hat, zumindest in begrenztem Maße, die ist einfach in eine Richtung gesteuert, dadurch, dass sie so sehr vom Ego des Präsidenten abhängig ist, das auch sehr sensibel ist, wie wir wissen, dass die Türkei sich politisch sehr, sehr isoliert sieht, und das ist auch sicherlich der Grund, warum sie sich jetzt wieder stärker an die Amerikaner wendet.
    Heinemann: Christian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.