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Türkei
Orientierungslos und revolutionsmüde

Der türkische Ministerpräsident Erdogan steht wegen der Korruptionsaffäre unter großem Druck. Das müsste eigentlich Wasser auf den Mühlen der Gezi-Park-Demonstranten sein, die im Sommer lautstark seinen Rücktritt verlangten. Stattdessen aber verhalten sie sich erstaunlich still.

Von Luise Sammann | 08.01.2014
    Die Wände der kleinen Küche in Istanbul sind mit Fotos geschmückt. "Erdogan verschwinde!" steht auf dem Plakat, das zwei junge Männer wie eine Trophäe in die Kamera halten, "Gezi forever" auf einem anderen. Einer der Demonstranten ist Wohnungsinhaber Tuncay selbst. Jeden Abend zog der 34-jährige im Sommer zum Taksim-Platz, forderte den Rücktritt der Regierung. Jetzt aber, wo deren Allmacht tatsächlich angekratzt ist, sitzt Tuncay Zuhause und grübelt.
    "Nein, mir ist nicht nach Feiern zumute, das Ganze ist zu verwirrend. Mit einem Schlag haben wir gesehen, wie stark die Gülen-Bewegung in diesem Land ist. Diese Leute sind keine Partei, keine richtige Organisation - aber wenn sie einen Knopf drücken, haben sie die Macht, Minister, deren Söhne und sogar den Premier anzugreifen."
    Beängstigend ist das Wort, das Tuncay am häufigsten benutzt, wenn er den Machtkampf beschreibt, in dem sich die religiöse Gülen-Bewegung und Erdogans AK-Partei gegenüberstehen. Würde er jetzt auf die Straße gehen und die korrupte Regierung zum Rücktritt auffordern, könnte er plötzlich als Gülen-Unterstützter dastehen. Und so bleiben er und Millionen andere säkulare Türken lieber Zuhause.
    "Ich weiß nicht, ob Erdogan fallen wird oder nicht. Aber das Beängstigende ist, dass die, die ihn dann gestürzt hätten, noch religiöser wären als er selbst. Sie würden jemanden an seinen Platz setzen, der ihnen gefallen würde. Dann könnte alles noch schlimmer werden."
    Es geht nicht mit Erdogan - aber vielleicht auch noch nicht ohne ihn. Tuncay ist nur einer von vielen einstigen Gezi-Demonstranten, die heute so denken.
    Viele sind inzwischen frustriert, verängstigt, passiv
    "Das Vertrauen der türkischen Gesellschaft in sich selbst und in ihre Zukunft ist unglaublich erschüttert",
    meint der Journalist und Autor Ahmet Insel, der sich ebenfalls mit der Frage beschäftigt, warum seine gestern noch so revolutionsfreudigen Landsleute heute plötzlich stillhalten.
    "Egal ob man ihn mag oder nicht: Erdogan funktionierte wie eine Vertrauenspumpe für dieses Land, und er tut es für einige immer noch. Eines seiner Ziele war immer, den Türken Selbstvertrauen zu geben und er war damit sehr erfolgreich."
    Ein anderer Orientierungspunkt aber, an den sich Türken wie Tuncay in diesen Zeiten klammern könnten, scheint nicht in Sicht. Sollen sie etwa auf das einst mächtige Militär vertrauen, dessen Führungsriege inzwischen geschlossen im Gefängnis sitzt? Auf die Justiz, die gerade 136 Gezi-Demonstranten zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt und als Terroristen bezeichnet hat? Oder gar auf die Medien, die immer wieder zeigen, wie wenig ihnen an einer unabhängigen Berichterstattung liegt?
    Gut lässt sich in diesen Tagen beobachten, was schon ein leichtes Straucheln Erdogans für die Türkei bedeutet. Der rasche Absturz der Börsenkurse und vor allem der Türkischen Lira nach den Verhaftungen der letzten Wochen spricht für sich. Auch die 33-jährige Nihan gehörte im Sommer zu denen, die allabendlich von der Arbeit direkt auf den Taksim-Platz strömten. In diesen Tagen hält die Marketingangestellte still.
    "Ich sehe die Wirtschaftskrise schon vor der Tür stehen. In dem Sektor, in dem ich arbeite, spüren wir es schon deutlich. Unsere Verkaufszahlen gehen zurück, die Leute halten ihr Geld jetzt zusammen, weil keiner weiß, was kommt. Nur wegen dieser Vorfälle könnten wir bald alle arbeitslos sein."
    Das klingt nicht mehr nach den revolutionslustigen jungen Türken, die vor gut sechs Monaten mit ihrer Entschlossenheit die ganze Welt beeindruckten. Nihan, Tuncay und viele andere sind inzwischen frustriert, verängstigt, passiv. Und sie ähneln damit immer mehr der apolitischen Generation ihrer Eltern, von der sie sich im Sommer noch so deutlich absetzen wollten.
    "Was wird in ein paar Jahren sein? In was für einem Land werden unsere Kinder aufwachsen? Ich glaube, wir sollten aufhören, darüber nachzudenken, ob wir mit dieser Regierung glücklich sind oder nicht, und einfach zusehen, wie wir hier mit dem geringsten Schaden rauskommen."