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Türkei
"Wir müssen auch mit schwierigen Partnern zusammenarbeiten"

Der Grünen-Europapolitiker Reinhard Bütikofer hat die Annäherung der EU an die Türkei begrüßt. Er sagte im DLF, beide Seiten hätten offenbar erkannt, dass sie einander brauchten. Angesichts der sich weiter zuspitzenden Situation im Nahen Osten dürfe die Türkei aber nicht der einzige Partner bleiben.

Reinhard Bütikofer im Gespräch mit Peter Kapern | 16.10.2015
    Der Europaabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen, Reinhard Bütikofer, spricht auf einem Grünen-Parteitag
    Der Grünen-Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    Bütikofer sagte im DLF, der Gipfel markiere einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Zum ersten Mal seit Längerem sei auf breiter Front deutlich gemacht worden, dass ein Interesse an einer Verbesserung des Verhältnisses bestehe. Das gelte im Gegensatz zu früher nun auch für die Mitgliedsländer, die zuvor eher zurückhaltend gewesen seien.
    "Die Europäer wie auch die türkische Führung haben erkannt, dass es eine völlige Verkennung der Tatsachen war, anzunehmen, man habe sich gegenseitig nicht nötig", so der Grünen-Europaabgeordnete. Die EU habe lange so Politik gemacht, als brauche sie die Türkei nicht und als sei es egal, ob der Annäherungsprozess vorankomme. "Seit gestern scheint sich das geändert zu haben und das halte ich für positiv."
    Türkei darf nicht der einzige Partner bleiben
    Bütikofer wies darauf hin, dass auch die Türkei die EU brauche. Sie sei "mit ihren hochfahrenden Hoffnungen, dass sie im Alleingang im Nahen Osten eine neue Dominanzrolle für sich gewinnen kann, an der Realität gescheitert". Die Europäische Union dürfe nun aber nicht so tun, als sei die Türkei der einzige Partner, mit dem man kooperieren müsse. Angesichts der Lage in Syrien müsse man auch mit Russland zusammenarbeiten, auch wenn dies durch die militärische Aufrüstung schwieriger geworden sei.
    "Wir müssen uns der dreckigen Realität stellen", betonte Bütikofer. Angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Situation im Nahen Osten könne man nicht weiter nur auf Partner setzen, die nach europäischen Gesichtspunkten eine weiße Weste hätten. "Man muss auch mit schwierigen Partnern zusammenarbeiten."

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Vor Kurzem noch, da debattierte ganz Europa über die Frage, ob man mit Wladimir Putin und seinem Vasallen Baschar al-Assad Geschäfte machen soll und kann und darf, um die Flüchtlingstracks aus Syrien Richtung Europa zu stoppen. Die Überlegungen scheinen, sich mit der machtvollen militärischen Einmischung Moskaus aufseiten des Diktators im syrischen Bürgerkrieg einstweilen erledigt zu haben. Jetzt richten sich offensichtlich alle Hoffnungen auf Recep Tayyip Erdogan, den türkischen Präsidenten.
    Er soll seine Grenzen dicht machen, die syrischen Flüchtlinge selbst aufnehmen, damit sie nicht mehr weiter Richtung EU ziehen. Und um ihm das Ganze schmackhaft zu machen, haben die Staats- und Regierungschefs der EU beim Gipfel gestern Abend in Brüssel ein Paket geschnürt, eine Art Geschenkpaket.
    Bei uns am Telefon ist Reinhard Bütikofer, außenpolitischer Experte der Grünen im Europaparlament. Guten Tag!
    Reinhard Bütikofer: Ich grüße Sie, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Bütikofer, wir haben es gerade gehört in dem Beitrag: Da sei ein Abkommen mit der Türkei fast bis zur Unterschriftsreife ausgehandelt. Das sagt zumindest die EU-Kommission. Die Kanzlerin sagte gestern selbst, es seien Umrisse einer Kooperation mit der Türkei erkennbar. Das klingt ein bisschen euphemistisch und wie eine Umschreibung dafür, wir haben überhaupt nichts in der Hand.
    Was ist denn der Stand der Dinge Ihrer Meinung nach im Verhandeln mit der Türkei?
    Bütikofer: Ich glaube, dieser Gipfel gestern markiert einen Wendepunkt in den Beziehungen der EU zur Türkei, denn zum ersten Mal seit längerem wird hier aktiv auf breiterer Front an einer systematischen Verbesserung der Zusammenarbeit auch vonseiten der EU-Mitgliedsländer insgesamt ein Interesse deutlich gemacht.
    Die Kommission und das Parlament haben da ja schon länger gedrängt, und ich finde, man muss an der Stelle auch mal hervorheben, dass die Brüsseler Institutionen Europas jedenfalls für die Verzögerungen die Verantwortung nicht tragen. Das waren schon die Mitgliedsländer. Aber darum geht es mir jetzt nicht hauptsächlich, da mit dem Finger auf irgendjemand zu zeigen. Mir geht es darum, dass offensichtlich die Europäer wie die türkische Führung begriffen haben, dass es eine völlige Verkennung der Verhältnisse war, auf beiden Seiten zu glauben, man habe sich gegenseitig nicht nötig.
    Ich erinnere mich noch an Sprüche des heutigen türkischen Premierministers, als er noch Außenminister war, die Türkei brauche Europa nicht. So haben die eine Weile Politik gemacht.
    Ich glaube, man kann feststellen, dass sie eines Besseren belehrt werden. Und auch die EU hat so Politik gemacht, als brauche sie die Türkei nicht und als sei es egal, ob der Beitrittsprozess wirklich ernsthaft betrieben wird. Seit gestern scheint, sich die Einsicht zu verbreiten, dass das doch nicht der Fall ist, und das halte ich für positiv, unabhängig von den Details.
    "Die Türkei braucht die EU"
    Kapern: Aber das müssen wir noch mal kurz sezieren, Herr Bütikofer. Wofür braucht denn um Gottes Willen die Türkei gerade die EU? Es ist doch eigentlich genau anders herum. Ohne die Türkei kann Europa offensichtlich den Zustrom von Flüchtlingen nicht bremsen. Das heißt, die Abhängigkeit scheint, doch im Moment völlig einseitig zu sein.
    Bütikofer: Das sehe ich nicht so. Ich bestreite ja nicht, dass wir die Türkei brauchen. Das hatte ich ja gerade selber gesagt. Insofern widersprechen Sie mir da gar nicht. Aber ich glaube, auch die Türkei braucht die EU, weil die Türkei mit ihren hochfahrenden Hoffnungen, dass sie da im Alleingang im Mittleren Osten eine neue Dominanzrolle für sich gewinnen kann, an der Realität gescheitert ist und begreift, begreifen muss, dass sie unter Sicherheitsgesichtspunkten, auch unter ökonomischen Gesichtspunkten diese europäische Perspektive einfach nicht außer Acht lassen darf.
    Ich glaube, wir würden einen Fehler machen, wenn wir jetzt diese, aus meiner Sicht zu begrüßende neue Orientierung an der Frage, was können wir denn zusammen tun, dadurch überhöhen, dass wir so tun, als wäre nur die Türkei ein Partner, mit dem wir kooperieren müssen.
    In Ihrem Beitrag war die Rede davon, die Überlegung habe sich erledigt, ob man mit der gegenwärtigen syrischen Führung und mit der russischen Regierung bestimmte Schritte machen kann. Ich glaube überhaupt nicht, dass sich diese Überlegungen völlig erledigt haben. Es ist schwieriger geworden durch die Aufrüstung und die verstärkte Intervention der Russen, das ist sicher richtig.
    "Europäer müssen Innenpolitik Erdogans weiter kritisieren"
    Kapern: Herr Bütikofer, gestatten Sie mir, doch noch einen Moment beim Thema Türkei zu bleiben. Feststeht, dass die neuen Kooperationsangebote aus Brüssel zu einer Zeit kommen, da die türkische Regierung den Waffenstillstand mit den Kurden aufgekündigt hat, kurdische Lager bombardiert und in ganz Europa heftige Empörung hervorruft. Ist das plausibel, ein solches Vorgehen gerade in diesem Moment?
    Bütikofer: Ja, es ist plausibel, weil wir uns der Schwierigkeit, der Komplexität, der dreckigen Realität stellen müssen. Wir können nicht in dieser, sich immer mehr zuspitzenden Situation im Nahen Osten nach dem Prinzip verfahren, Partner für uns kann nur sein, wer nach allen unseren Kriterien in jeder Hinsicht eine weiße Weste hat. Man muss gerade in solchen Konfliktsituationen auch mit schwierigen Partnern die Kooperation suchen.
    Was falsch wäre, wäre, wenn die Europäer jetzt wegen dieser Einsicht, dass man die Türkei braucht, sich dazu hinreißen ließen, jetzt die Kritik nicht mehr zu formulieren an der Innenpolitik Erdogans, nicht mehr zu kritisieren, wie die Medien unterdrückt werden, nicht mehr zu kritisieren, wie die Religionsgemeinschaften unterdrückt werden, und plötzlich da nur noch sozusagen Sternchen in den Augen zu haben und zu hoffen, dass die türkische Regierung uns irgendwie das Flüchtlingsproblem vom Hals schafft.
    Kapern: ... sagt Reinhard Bütikofer, der Europaabgeordnete der Grünen, heute Mittag im Deutschlandfunk. Herr Bütikofer, danke, dass Sie Zeit für uns hatten. Schönen Tag noch!
    Bütikofer: Danke Ihnen auch! Tschüss!
    Kapern: Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.