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Türken in Deutschland
"Der verlängerte Arm von Erdogan ist schon lange hier"

Viele junge Türken in Deutschland würden in Präsident Erdogan eine Identifikationsfigur sehen, sagte der deutsch-türkische Journalist und Filmemacher Osman Okkan im DLF. Sie würden sich von der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt fühlen. Diese sei nicht in der Lage gewesen, sie an hiesigen Vorbildern zu orientieren, kritisierte Okkan.

Der Journalist und Dokumentarfilmer Osman Okkan im Gespräch mit Martin Gerner | 24.07.2016
    Der Journalist und Dokumentarfilmer Osman Okkan
    Demonstrationszug mehrerer türkischer Verbände in Berlin gegen die geplante Bundestags-Abstimmung über eine Armenien-Resolution. (picture alliance / dpa / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Nach dem versuchten Militärputsch in der Türkei seien die Erdogan-Anhänger in Deutschland nun systematischer vorbereitet und gingen auch systematischer vor, berichtete der in Ankara geborene Dokumentarfilmer in den "Kulturfragen". Während Grünen-Chef Cem Özdemir im Interview der Woche im Deutschlandfunk zuletzt forderte: "Der Arm Erdogans darf nicht nach Deutschland reichen", betonte Okkan: "Der verlängerte Arm von Erdogan ist schon lange hier".
    Der Einfluss der Gülen-Bewegung auf die türkische Gemeinschaft in Deutschland sei dagegen sehr viel geringer und nicht zu vergleichen mit dem direkten Einfluss der AKP oder Erdogans. Die deutsche Gesellschaft müsse sich nun die Frage stellen, was bei der Integration der Türken in Deutschland falsch gemacht worden sei.
    "Türken in Deutschland fühlen sich nicht ernstgenommen"
    "Die Integration der ersten, zweiten und dritten Generation war zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen oder als gelungen zu betrachten", kritisierte der 69-Jährige. Das sehe man vor allem an der zunehmenden Radikalisierung von Jugendlichen, deren Familien seit mehreren Generationen in Deutschland lebten. Junge Türken hätten die Tendenz, sich Identifikationsfiguren zu suchen bei radikalislamischen Kräften als Projektionsflächen für ihre Ideale, warnte der Soziologe. Die deutsche Gesellschaft hätte versäumt, ihnen die notwendigen bildungspolitischen Kenntnisse zu vermitteln.
    Bundespräsident Joachim Gauck (r) überreicht am 10.07.2014 im Schloss Bellevue in Berlin Osman Okkan aus Köln (Nordrhein-Westfalen) das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Der Bundespräsident ehrt 25 Bürger für ihr Engagement für Integration mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.
    Der Ablauf der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sei für Erdogan ein gefundenes Fressen gewesen, auf die EU keine Rücksicht zu nehmen, sagte der Journalist Osman Okkan im Deutschlandfunk. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    Zudem äußerte sich der Journalist besorgt über die aktuelle Lage in der Türkei. Erdogan plane eine "putineske Form des Präsidialsystems" und versuche einen Schulterschluss mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Okkan rechnet mit der Flucht vieler Intellektueller, Künstler und Oppositioneller aus dem Land und erwartet nun vermehrt Asylanträge in Europa. Die jetzige Säuberungswelle werde außerdem mehr qualifizierte Menschen aus den türkischen Universitäten vertreiben.
    "Erdogan regiert und reagiert nicht mehr rational"
    "Es kann nicht akzeptiert werden, dass unter dem Deckmantel der Demokratie die demokratischen Rechte, die Minderheitenrechte nach und nach abgeschafft werden, aber genau das passiert", sagte der studierte Ökonom. Dabei berief er sich auch auf den Umgang mit der kurdischen Minderheit in der Türkei, deren Grundrechte und Freiheiten von der Regierung anerkannt werden müssten.
    Erdogan jedoch werde "nicht mehr von rationalen Grundsätzen geleitet". Seine Politik sei geprägt von seinem Machtanspruch und einem Streben nach Alleinherrschaft, kritisierte Okkan. Von der EU erwarte er deshalb, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei so lange zu pausieren, wie die Grundrechte der türkischen Bürger ausgesetzt seien. Darüber hinaus kritisierte der Journalist das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei als "sehr opportunistische Variante der Flüchtlingspolitik" und forderte, die europäische Politik zu überdenken.
    Das vollständige Gespräch mit dem deutsch-türkischen Journalisten und Dokumentarfilmer Osman Okkan können Sie mindestens sechs Monate nachhören.
    Osman Okkan ist ein deutsch-türkischer Dokumentarfilmer, Soziologe und Journalist und befasst sich in seinen Filmen immer wieder mit der Kunst- und Kulturszene in der Türkei. Er drehte Filme über den ermordeten armenisch-stämmigen Journalisten Hrant Dink sowie mehrere Porträts über türkische Schriftsteller im Kampf für die Meinungsfreiheit. Seine neueste Dokumentarfilm-Serie handelt von der Geschichte der Türkei von Atatürk bis Erdogan. Osman Okkan ist außerdem Gründer und Vorstand des KulturForums Türkei-Deutschland, das sich u.a. für die Versöhnung von Türken und Armeniern einsetzt. Er ist Initiator zahlreicher interkultureller Medien- und Kulturprojekte und Träger des Bundesverdienstkreuzes. 1965 kam er nach Deutschland und studierte in Münster. Anschließend arbeitete er freiberuflich für deutsche wie türkische Medien.