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Türkische Offensive gegen PKK
"Man kann von Bürgerkrieg sprechen"

Angesichts der Offensive türkischer Truppen in den kurdischen Gebieten könne man inzwischen dort von einem Bürgerkrieg sprechen, sagte der Politikwissenschaftler Ismail Küpeli im DLF. Die Kämpfe hätten schon im September begonnen, seien jetzt aber intensiver geworden. Die große Frage sei, was die Regierung mit dem Krieg bezwecke.

Ismail Küpeli im Gespräch mit Jonas Reese | 21.12.2015
    Ein verletzter kurdischer Demonstrant
    Ein verletzter kurdischer Demonstrant (picture alliance/dpa/Bedran Babat)
    Jonas Reese: Am Telefon ist nun Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler an der Ruhr-Universität in Bochum und Herausgeber des Buches "Kampf um Kobane". Guten Abend, Herr Küpeli.
    Ismail Küpeli: Guten Abend.
    Reese: Angesichts der Zustände, die unser Korrespondent Thomas Bormann gerade berichtet hat, muss man da schon von Bürgerkrieg sprechen?
    Küpeli: Ich denke, ja. Ich denke, inzwischen kann man von Bürgerkrieg reden. Auch die Fragezeichen, die bisher in den Medienberichten oft hinter Bürgerkrieg gesetzt wurden, kann man inzwischen streichen. Die Lage ist zwar jetzt in den letzten Wochen verschärft, aber die Ausgangssperren und auch der Einsatz von schweren Waffen in den Städten findet hier auch schon viele, viele Wochen statt. Eigentlich seit September gibt es diese Angriffe und die haben sich jetzt gehäuft in einer Intensität, die bisher nicht da war, und ich glaube, spätestens jetzt müsste man von einem Bürgerkrieg reden, ja.
    Reese: Sie haben heute getwittert, dass innerhalb von einer Woche jetzt 18 Zivilisten in drei Städten, in Cizre, in Silopi und Nusaybin getötet worden sind. Davon sollen fünf Kinder sein.
    Küpeli: Ja, genau.
    "Eine objektive Berichterstattung findet nicht wirklich statt"
    Reese: Was sind da Ihre Quellen? Es ist ja nicht ganz einfach, an Informationen zu kommen, und es ist ja auch immer ein Kampf um die Deutungshoheit in so einem Konflikt.
    Küpeli: Genau, das ist sehr richtig. Wenn man sich die Zahlen anschaut, auch die Zahlen der Todesopfer, dann gibt es unterschiedliche Darstellungen. Wir haben die Darstellung der türkischen Armee, die von über 100 getöteten Terroristen spricht, und wir haben die kurdischen Quellen, die ganz andere Zahlen berichten und auch eine andere Zusammensetzung der Opfer. Dort ist nämlich gar nicht von Terroristen die Rede, sondern von Zivilisten, von jungen Menschen, von Kindern, von Frauen, von Älteren, die bei den Kämpfen getötet wurden. Diese 18 Getöteten, das sind laut der kurdischen Quellen Zivilisten. Das große Problem - das haben Sie schon angesprochen - ist die Quellenlage: Wer berichtet überhaupt über diese Kämpfe und wer berichtet objektiv, wem kann man vertrauen. Das ist derzeit sehr, sehr schwierig, weil eine objektive Berichterstattung im engen Verständnis nicht stattfinden. Wir haben eigentlich Quellen, die beide parteiisch sind, und da muss man für sich abwägen, welcher Quelle man mehr vertraut, und das auch so einschätzen, dass das nur ein Teil der Wahrheit ist.
    Reese: Wonach gehen Sie da persönlich?
    Küpeli: Ich gehe persönlich danach: Wenn man sich zum Beispiel gerade in den letzten Wochen etwa die Kämpfe auf Cizre anschaut, die es auch schon im Vorfeld gab, dort war das zum Beispiel so, dass dort die Todesopfer gar nicht von der Regierung oder vom Staat gezählt wurden, sondern dass dort Menschenrechtsorganisationen nach der Ausgangssperre in die Stadt reingegangen sind und nachgeschaut haben, wer wurde überhaupt umgebracht. Das sind dann für mich eher die zuverlässigen Quellen, die Menschenrechtsorganisationen, die Anwaltsvereinigungen, die in der Türkei auch relativ wichtig sind. Auch der Mord in Diyarbakir an dem Chef der Anwaltskammer dort ist auch kein Zufall, ist auch ein Teil des Krieges. Das heißt, wir haben dort durchaus Aktivisten in der Menschenrechtsszene, aber auch von den Anwaltskammern, die ebenfalls berichten, und das sind dann für mich die eher vertrauenswürdigen Quellen. Aber am Ende bleibt es ein Problem, dass eine objektive Berichterstattung nicht wirklich stattfindet.
    "Die Kurden-Frage ist militärisch nicht lösbar"
    Reese: Jetzt habe ich es in der Anmoderation schon erwähnt. Präsident Erdogan hat am Wochenende noch mal ausdrücklich gesagt, er möchte die PKK wortwörtlich auslöschen.
    Küpeli: Ja.
    Reese: Wie würden Sie sein Ziel beschreiben?
    Küpeli: Das ist sehr schwierig zu sagen. Wenn man die Sprache, die bisher benutzt wird, sich einmal anschaut, dort ist die Rede von Säuberung, von Eliminierung. Wenn zum Beispiel über PKK-Kämpfer berichtet wird, dann sind da solche Formulierungen wie "unschädlich gemacht". Diese Sprache ist schon sehr martialisch. Dem gegenüber ist die offene Frage, was eigentlich die AKP-Regierung überhaupt mit diesem Krieg vorhat. Weil wenn man zeitlich ein bisschen weiter zurückgeht und sich die 90er-Jahre anschaut, wo der Krieg in der Türkei ebenfalls auf einem Höchstniveau war, auch damals gab es keine militärische Lösung. Das heißt, eigentlich müsste auch der Regierung klar sein, dass auf dem militärischen Wege die Kurden-Frage nicht lösbar ist. Deswegen ist das eine sehr große Frage, wo ich auch keine Antwort habe, was die AKP-Regierung genau mit diesem Krieg vorhat.
    Reese: Was vermuten Sie?
    Küpeli: Eine Vermutung ist, oder eine Vermutung, die sich aber als falsch erwiesen hat - ich will es aber trotzdem der Ehrlichkeit halber sagen -, dass dieser Krieg seitens der AKP für den Wahlkampf hochgefahren wurde. Aber dann wäre zu erwarten gewesen, dass nach den gewonnenen Wahlen am 1. November dieser Krieg dann wieder runtergefahren wird. Das ist nicht der Fall. Deswegen sind große Fragezeichen, was der Krieg jetzt bezwecken soll. Eine militärische Lösung ist eigentlich nicht wirklich denkbar. Jetzt kann man darauf spekulieren, dass die AKP auf diese gespannte Lage setzt, weil natürlich in einer solchen Lage die Bevölkerung sich eher hinter die eigene Regierung stellt und die Opposition eigentlich schlechte Karten hat, gegen eine Regierung in Kriegszeiten anzugehen. Aber das wäre eigentlich eine sehr zynische Rechnung, wo ich nicht weiß, ob das wirklich zutrifft.
    "Der türkische Nationalismus ist nie infrage gestellt worden"
    Reese: Wir haben die martialische Wortwahl schon angesprochen. Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen unterstützt eine Mehrheit der Türken offenbar den Kurs ihres Präsidenten. Wie erklären Sie sich das?
    Küpeli: Dafür muss man zeitlich immer weiter zurückgehen. Man kann das ja nicht allein aus der Tagespolitik her erklären. Diese grundsätzliche Haltung in der Türkei, dass die Türkei ein türkischer Einheitsstaat ist, das ist eigentlich eine Konstante, die sich über die ganze Geschichte der Türkei hinwegzieht. Jegliche Bestrebung von Minderheiten, insbesondere von den Kurden, wird zuerst von der türkischen Bevölkerung grundsätzlich erst mal abgelehnt. Das ist insofern die Bank, auf die die AKP auch setzen kann in ihrer Kriegspropaganda, wenn man es so nennen möchte. Dieses Reden gegen die Kurden hat in der Türkei eigentlich immer gut funktioniert, leider, und das hat sich auch unter der AKP-Herrschaft nicht geändert. Das ist ein grundsätzliches Problem, dass in der Türkei der türkische Nationalismus eigentlich nie infrage gestellt wurde, nie kritisiert wurde und eigentlich bis heute wirkt, auch quer über die politischen Lager. Auch in der CHP, die vorhin als sozialdemokratisch bezeichnet wurde, auch dort ist das Ideal des türkischen Nationalstaates nach wie vor da. Auch dort gibt es keine Abweichung davon. Auf diese grundsätzliche Haltung kann die AKP-Regierung setzen.
    Reese: Ismail Küpeli, Politikwissenschaftler an der Ruhr-Universität in Bochum. Danke für diese Einschätzungen und Ihnen noch einen schönen Abend.
    Küpeli: Schönen Abend.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.