Donnerstag, 25. April 2024

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Türkische Syrien-Offensive
"Schwere Krise der internationalen Sicherheitspolitik"

Die Kritik am US-Rückzug und am Einmarsch der Türkei in Nordsyrien sei "etwas wohlfeil", sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Dlf. Man müsse die türkischen Sicherheitsinteressen ernster nehmen und dürfe die Türkei nicht noch weiter von der NATO und Europa entfernen.

Johannes Varwick im Gespräch mit Mario Dobovisek | 14.10.2019
Ein von der Türkei unterstützte Rebell der Syrischen Nationalarmee richtet seine Waffe aus, während im Hintergrund türkische Panzer vorbeifahren
Die türkische Militäroffensive in Syrien geht weiter (dpa / Anas Alkharboutli)
Mario Dobovisek: Kämpfe in Nordsyrien. Es gibt viele Tote und Verletzte bei Gefechten zwischen türkischen Truppen und kurdischen Milizen. Letztere erhalten nun Hilfe von syrischen Truppen, denn die Kurden haben Syriens Machthaber Assad um Hilfe gebeten. Der Westen verurteilt das Vorgehen Ankaras. Gerade tagen die Außenminister, um über mögliche Sanktionen zu beraten.
Aus Berlin zugeschaltet ist uns Johannes Varwick, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg und Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Ich grüße Sie, Herr Varwick!
Johannes Varwick: Ich grüße Sie, Herr Dobovisek!
Dobovisek: Für wie gefährlich halten Sie den türkischen Einmarsch in Nordsyrien?
Varwick: Ja, hoch brisant, absolut gefährlich. Wir haben wirklich eine schwere Krise in der internationalen Sicherheitspolitik. Auf der anderen Seite: Im Krieg ist Wahrheit bekanntlich das erste Opfer, und ich würde jetzt die Verlautbarungen der syrischen Staatsmedien nicht überbewerten. Fakt ist aber, das ist wirklich eine brisante Lage, und es gibt mindestens zwei Lesarten zu dieser Lage. Die erste Lesart, würde ich sagen, das ist die türkische Position, dass das letztlich eine Reaktion der Türkei mit Blick auf die Kurden-Frage, PKK und YPG ist, die sich in einer innenpolitischen Gemengelage seit Langem zeigt, die zu einer Überreaktion in der Türkei geführt hat, und das wird jetzt nach außen getragen. Das ist die türkische Lesart, sozusagen die internationale Lesart.
Die zweite Lesart ist, dass das letztlich eine ja doch berechtigte oder zumindest verständliche Reaktion der Türken ist auf das Chaos im Zuge einer territorialen Neuordnung Syriens.
Dobovisek: Da würde ich auch gerne gleich einhaken, Herr Varwick. Denn die Türkei führt ja Sicherheitsinteressen an, fühlt sich, wie sie sagt, von Terroristen bedroht, von Instabilität im Norden Syriens. Deshalb will sie in Nordsyrien eine Sicherheitszone einrichten. Sind diese türkischen Sicherheitsinteressen aus Ihrer Sicht berechtigt?
Varwick: Die sind ein Stück weit berechtigt, würde ich sagen. Der türkische Botschafter hat das etwa so formuliert, dass sich die Türkei im Selbstverteidigungsmodus befindet. Auch Angela Merkel hat davon gesprochen, dass es berechtigte Sicherheitsinteressen der Türkei gibt, aber hat die Offensive natürlich scharf verurteilt. Das heißt, man kann die Türken schon verstehen. Das ist eine Reaktion auf wirklich acht Jahre Krieg jetzt in Syrien und auch eine Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft, und das ist schon nachvollziehbar. Aber die Mittel sind natürlich inakzeptabel und die Türkei ist auch international isoliert in eigentlich alle Himmelsrichtungen. Zum Beispiel die Arabische Liga hat das verurteilt, der Iran hat das verurteilt. Ein breiteres Bündnis gegen die Türkei kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen und ich sehe nicht, wie die Türkei jetzt da wieder rauskommt.
"Mit Vorschlägen um die Ecke kommen"
Dobovisek: Das Stichwort Bündnis ist ein ganz wichtiges. Sie haben das Stichwort Selbstverteidigungsmodus genannt. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn warnt nun davor, dass der türkische Einmarsch in Nordsyrien die NATO-Staaten in den Krieg mit hineinziehen könnte. Könnten tatsächlich solche direkten Kämpfe dort zwischen der Türkei und Syrien (unterstützt von Russland) den Bündnisfall auslösen?
Varwick: Der Bündnisfall in der NATO muss einstimmig festgestellt werden, und da gibt es sicherlich keinen Konsens für. Aber wir müssen in der NATO darüber nachdenken, wie man denn eine Rolle in dieser Situation spielen kann. Im Übrigen sehen wir jetzt auch einen Ausblick auf eine Weltordnung ohne eine Führungsrolle der USA und wir sehen, dass eigentlich viele Probleme schwieriger zu lösen sind, wenn sich die USA zurückziehen. Und ich glaube, die NATO und auch die Europäer sind verpflichtet, in dieser Situation jetzt mit Vorschlägen um die Ecke zu kommen.
Warum denken wir nicht darüber nach, über eine europäische, transatlantisch abgestimmte Initiative zur Schaffung einer international überwachten Pufferzone? Da ist aber nichts zu hören aus den europäischen Staaten.
Dobovisek: Warum nicht?
Varwick: Man kritisiert immer gerne die Amerikaner, aber ist selbst nicht in der Lage zu handeln. Mit Deutschland ist es ja grundsätzlich so oder oft in der Sicherheitspolitik, dass Machtlosigkeit als Tugend verstanden wird, man gerne moralische Haltungsnoten verteilt, aber nicht bereit ist, sich zu engagieren. Insofern ist die Kritik sowohl an dem amerikanischen Rückzug aus dem Norden Syriens als auch der Reaktion der Türken jetzt etwas wohlfeil. Man müsste eigentlich die türkischen Sicherheitsinteressen wirklich ernster nehmen und das in seine Strategie einpreisen.
Dobovisek: Russland hat sich ja bisher relativ zurückgehalten, passiv verhalten in den letzten Stunden und Tagen. Wie groß halten Sie die Gefahr, dass Russland tatsächlich aktiv in diesen Konflikt mit einsteigt und damit noch mal alle Vorzeichen ändert?
Varwick: Ja, Russland ist aktiv in diesem Konflikt beteiligt. Russland ist ja Akteur in Syrien. Es steht bretthart auf Seite der syrischen Regierung.
Dobovisek: Hat aber noch nicht begonnen, gegen die Türkei zu kämpfen zum Beispiel.
Varwick: Nein, weil es ganz unterschiedliche Interessenlagen gibt. Die Russen liefern ja unter anderem ein Flugabwehrsystem an die Türken. Da gibt es sehr, sehr viele Ebenen in diesem Konflikt, die sehr, sehr schwierig zu entwirren sind. Aber die Kurden denken jetzt offenkundig, dass sie die Schutzmacht wechseln können, von den USA zu den Russen. Ob das eine gute nachhaltige Strategie ist, weiß ich nicht. Nach meiner Analyse verhalten sich die Russen wie so oft sehr, sehr geschickt. Sie positionieren sich nicht klar, sondern versuchen, aus dieser Lage einen Interessensgewinn zu ziehen, und das machen die Russen im Moment ganz geschickt, kann man nicht anders sagen.
Dobovisek: Sie haben die russischen Raketen angesprochen, die die Türkei in Moskau bestellt hat. Da gab es ja auch in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder Kritik an der Türkei und die große Frage, wie soll die NATO damit umgehen. Das war bis zu diesem Punkt ja eigentlich undenkbar, dass ein NATO-Partner sich an Waffen Russlands bedient. Da müssen wir uns an die Geschichte noch mal zurückerinnern: Die NATO wurde ja eigentlich gegründet als Verteidigungsbündnis gegen den Ostblock, um es noch mal so zu nennen. Was bedeutet das?
Varwick: Das bedeutet, dass die NATO nicht in der Lage ist, die türkischen Sicherheitsinteressen auch nur annähernd zu befriedigen. Und wenn ein Bündnismitglied in einem bestehenden Bündnis keinen Mehrwert mehr sieht, dann ist die Mitgliedschaft faktisch vorbei. Natürlich ist die Türkei nach wie vor NATO-Mitglied, aber es gibt wenig Einflussmöglichkeiten im Moment auf die Türkei seitens der NATO und faktisch ist die NATO in dieser Frage wirklich ziemlich weit auseinandergefallen, und ich würde sagen, wir sollten die Scherben jetzt versuchen zusammenzukehren.
"Rückkehr des Dschungels in der internationalen Sicherheitspolitik"
Dobovisek: Wer könnte das tun?
Varwick: Wir erleben ja im Moment eine internationale Sicherheitspolitik ohne wirkliche Führungsrolle. Noch mal: Die Amerikaner ziehen sich zurück aus dieser Führungsrolle. Die Europäer sind nicht in der Lage, aus vielen Gründen, das zu tun, und jetzt haben wir gewissermaßen eine Rückkehr des Dschungels in der internationalen Sicherheitspolitik und alle, die daran interessiert sind, dass wir keinen Dschungel haben, die müssen jetzt mit konkreten Vorschlägen - ich habe das gerade schon gesagt - um die Ecke kommen. Da sehe ich aber leider keine, die in der Diskussion sind.
Dobovisek: Und wenn, wie Sie sagen, die Türkei schon de facto kein richtiges NATO-Mitglied mehr ist, müsste die NATO dann nicht auch die Konsequenz ziehen und sagen, auch offiziell, die Türkei gehört nicht mehr zu uns?
Varwick: Nein, das würde ich für völlig kontraproduktiv halten. NATO-Generalsekretär Stoltenberg war ja am Freitag in Ankara und er hat da sehr diplomatisch agiert. Das muss er auch, weil er sehr unterschiedliche Interessen repräsentiert. Er hat davon gesprochen, dass die Türkei eine große Nation ist, und eine große Nation habe auch große Verantwortung. Ich glaube, das ist jetzt die Linie: Schadensbegrenzung, nicht ausgrenzen der Türkei, nicht noch weiter wegschieben die Türkei von der NATO, sondern versuchen, im Kontakt zu bleiben. Im Übrigen gibt es ja Druck auf vielen Ebenen, von der NATO, aber auch von den Amerikanern, dass die Türken jetzt bei dieser Offensive nicht überziehen, dass sie so wenig wie möglich Kollateralschäden eingehen, was immer schwierig ist, aber die Türkei steht gewissermaßen unter Beobachtung bei dieser Aktion und das gelingt besser, wenn sie in der NATO ist, als wenn sie nicht mehr in der NATO wäre.
"Türkei hat hohes Erpressungspotenzial"
Dobovisek: Trotzdem will auch zum Beispiel Deutschland nicht zu viel Druck auf die Türkei ausüben, auch mit im Hinterkopf habend, dass es viele Flüchtlinge weiterhin gibt in der Türkei, die ja möglicherweise dann weiter Richtung Europa gehen könnten, Richtung EU gehen könnten. Ist das ein fadenscheiniges Argument, oder ist das stichhaltig?
Varwick: Nein, das ist natürlich Realpolitik reinsten Wassers, und das ist auch vernünftig. Wir sind abhängig von der Türkei. Wenn die Türkei den Flüchtlingsdeal aufkündigt, dann müssen wir damit rechnen, dass wir sehr, sehr große Zahlen an Flüchtlingen wieder hier haben. Schon aus dem Grund müssen wir mit der Türkei im Gespräch bleiben. Die Türkei hat gewissermaßen ein hohes Erpressungspotenzial.
Dobovisek: Was bedeutet das, Herr Varwick, für eine andere realpolitische Frage, die gerade in diesen Minuten von den EU-Außenministern diskutiert wird? Wie mit der Türkei umgehen zum Beispiel auch mit Blick auf Waffenlieferungen?
Varwick: Ich finde es vernünftig, dass wir jetzt Waffenlieferungen suspendieren. Aber ich finde es unvernünftig, jetzt über Wirtschaftssanktionen nachzudenken, wie die Europäische Union das macht. Ich sehe auch keinen Konsens dafür, weil auch das nur einstimmig zu verabschieden ist in der Europäischen Union. Das heißt, wir müssen jetzt diesen wirklich diplomatischen Drahtseilakt hinbekommen zwischen einerseits natürlich auf Prinzipien bestehen - und ich muss noch mal sagen: Die Infragestellung der Souveränität Syriens ist ein schwerwiegender Vorfall und das ist kein Pappenstiel, bei allem Verständnis für die Türkei. Das müssen wir verurteilen. Wir können gar nicht anders. Aber gleichzeitig dürfen wir die Türkei nicht noch weiter von der NATO und Europa entfernen. Das liegt in unserem ureigensten Sicherheitsinteresse, das nicht zu tun.
Dobovisek: Schwieriges Dilemma, das wir auch in den nächsten Tagen weiter beobachten müssen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.