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Türkische Wissenschaftler in Deutschland
Frei, aber ständig in Sorge um die Zukunft

Mehr als 2.000 türkische Wissenschaftler riefen ihre Regierung 2016 in einem offenen Brief auf, die Gewalt gegen die kurdische PKK im Südosten des Landes zu beenden. Drei Jahre später sitzen Hunderte von ihnen im Gefängnis oder sind geflohen - auch nach Deutschland. Doch auch hier ist die Zukunft ungewiss.

Von Luise Sammann | 10.07.2019
Demonstranten am 5.12.2017 in Istanbul, Türkei, vor dem Gerichtsgebäude, um eine Gruppe von Akademikern vor Gericht zu unterstützen
2016 warf Präsident Erdogan türkischen Wissenschaftlern Terrorpropaganda vor, weil sie in einem offenen Brief um ein Ende der Gewalt gegen die PKK warben (AFP / Ozan Kose)
Özgür Cicek, Film-und Fernsehwissenschaftlerin aus Istanbul, sitzt in einem Café in Berlin Kreuzberg und rührt nachdenklich in ihrem Tee.
"Als ich die Petition der Akademiker für den Frieden 2016 unterschrieben habe, hatte ich keine Ahnung, wozu das alles führen würde. Ich hatte gerade promoviert und wollte eigentlich nach einer Stelle an einer türkischen Uni suchen."
Aus den Karriereplänen der jungen Wissenschaftlerin wurde nichts. Stattdessen galt sie über Nacht als Terrorunterstützerin und Vaterlandsverräterin. Genau wie fast 700 ihrer Kollegen wurde sie inzwischen für ihre Unterschrift angeklagt, Hunderte andere wurden entlassen, verloren ihr Einkommen, aber auch ihren Status und ihre Rentenansprüche. Zahlreichen wurde auch der Reisepass entzogen. Özgür Cicek stieg in ein Flugzeug, bevor es soweit kommen konnte.
"Am Anfang habe ich mich schuldig gefühlt, weil ich einfach gegangen bin. Aber ich habe absolut keine akademische Zukunft in der Türkei gesehen und deswegen nach Möglichkeiten im Ausland gesucht. Ich habe eine Familie und einen Sohn, ich muss doch arbeiten!"
Deutscher Lehrbetrieb als Rettungsanker
Cicek, die zum kurdischen Film forscht, erhielt ein Stipendium der Berliner Einstein-Stiftung und kam nach Deutschland. An vielen deutschen Unis sind inzwischen türkische Exilwissenschaftler wie sie untergekommen. An der Humboldt-Universität Berlin ist gar ein richtiger Türkei-Schwerpunkt entstanden, so Anne Berger, die dort eine Gruppe von acht türkischen Stipendiatinnen betreut.
"Ganz am Anfang war sicher die Motivation: Hier ist jetzt ne Situation, da müssen wir kurzfristig jemanden aufnehmen und zumindest als Puffer funktionieren. Aber eigentlich, was jetzt passiert, ist, ok die Situation ist überhaupt nicht kurzfristig, das wird sich jetzt so schnell nicht verbessern, und jetzt wird langsam das so wahrgenommen, ok, das sind jetzt unsere Kollegen hier geworden und die bringen nen Erfahrungsschatz mit, den wir hier gar nicht sammeln konnten. Nämlich zum Beispiel: wie gehe ich als kritische Wissenschaftlerin mit politischem Druck um. Und das machen sie ja seit Jahren und das machen sie mit Bravour und engagieren sich nebenbei noch und organisieren sich in Gruppen und haben da total viel Knowhow angesammelt, was man jetzt hier als Professorin gar nicht unbedingt kennt."
Doch Berger weiß auch: Bei aller Erleichterung darüber, dass sie einer möglichen Gefängnisstrafe in der Heimat entkommen konnten: Leicht ist die Situation für die türkischen Gastwissenschaftler in Deutschland nicht.
"Sei das mit, ja, meine Wohnung in Istanbul, soll ich die jetzt auflösen oder soll ich die noch halten? Kann ich bald wieder dorthin zurück? Wie lange kann ich überhaupt noch pendeln -wenn sie überhaupt die Möglichkeit noch haben überhaupt zurück in die Türkei zu fliegen? Das sind alles Fragen, und das belastet natürlich. Und danach kommt natürlich Einkommenssicherheit."
Ungewisse Zukunft
Das Berliner Einstein-Programm, dessen Stipendiaten Anne Berger an der HU betreut, unterstützt die türkischen Wissenschaftler zunächst für zwei Jahre.
"Was danach kommt, kann ich nicht sagen."
So Politikwissenschaftlerin Gülcin Balamir Coskun, die vor eineinhalb Jahren mit ihren beiden Söhnen nach Berlin kam, weil ihr in der Türkei ebenfalls eine Haftstrafe wegen Terrorpropaganda droht.
"Diese Planungsunsicherheit ist das Schwierigste an unserem Leben hier. Der deutsche Wissenschaftsbetrieb hat ja seine eigenen Probleme. Fast jeder arbeitet mit kurzen Projektverträgen, muss ständig um neue Förderungen kämpfen. Da müssen wir uns nun einreihen."
18 Jahre lang forschte und lehrte die gestandene Professorin an türkischen Universitäten. In Berlin ist sie nun wieder zur Hilfswissenschaftlerin geworden – die für jeden Brief, jeden Antrag um Übersetzungshilfe bitten muss und ihren Söhnen kaum bei den Hausaufgaben helfen kann.
Wenn Coskun könnte, würde sie sofort in ihre Heimat zurückkehren. Doch sie weiß, selbst bei einem Freispruch. Die Chancen, dass eine türkische Universität jemanden wie sie einstellt, sind gering.
"Die Situation in der Türkei wird zusehends schlechter. Und ich merke, dass deswegen auch alle immer vorsichtiger werden mit dem, was sie sagen. Das beschädigt den gesamten Wissenschaftsbetrieb. Alle Türken zensieren sich immer mehr selbst."
Es braucht langfristige Perspektiven
Umso wichtiger, dass die türkischen Gastwissenschaftler bald langfristige Perspektiven in Deutschland bekommen. Auch und gerade um Projekte umzusetzen, die in der Türkei nicht mehr möglich sind. Coskuns aktuelles Forschungsthema zum Beispiel heißt: Wie die AKP-Regierung die Medien kontrolliert, um ihre Macht auszubauen.