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Türkischer Eulenspiegel

Die Handlung des 930 Seiten starken Romans kommt zunächst mit ein paar Quadratmetern aus. Sie spielt im engen Geviert eines Boxrings. In Monaco wird der Europameisterschaftskampf im Superfedergewicht zwischen dem karibisch-französischen Titelverteidiger Marcel Sandol und dem Deutschtürken Nasrettin Öztürk ausgetragen. Zwei gleichermaßen hybride Identitäten, von denen aber nur die zweite den Erzähler nachhaltig beschäftigt. Nasrettin ist Hauptfigur und Sympathieträger des Buches, ein listenreicher Schelm, dessen Name auf den türkischen Eulenspiegel Nasreddin Hoca verweist.

Von Wolfgang Schneider | 19.08.2004
    Während die Herren boxen, öffnen sich Runde für Runde weite Erzählhorizonte. Nasrettins Lebensgeschichte beginnt zünftig mit dem Brautraub des Vaters im fernen Ostanatolien, verfolgt dann lebensgefährliche Familienfehden und den mühseligen Weg des Vaters als Gastarbeiter in Deutschland. Nasrettin ist Zugewanderter in zweiter Generation, für die nicht mehr stiller türkischer Fleiß das oberste Gebot ist, sondern die Devise: Frech kommt weiter. Die Berliner Schule entpuppt sich als Farce, der wahre Unterricht findet auf der Straße statt. Nasrettin arbeitet sich hoch – zunächst als Drogendealer, dann als Sportler.

    Das "Durchboxen" in feindlicher Umgebung ist das Leitmotiv seines Lebens und der Sport in diesem Buch zur Hälfte eine Metapher. Vom sozialen Entlarvungsehrgeiz eines Günter Wallraff, der selbst einst in die Rolle des türkischen Gastarbeiters schlüpfte, ist Beckers Immigrantensaga dabei weit entfernt. Der Schelmenroman klagt die Umstände nicht an; er freut sich vielmehr über die Gerissenheit, mit welcher der Held sich in stachligen Zeitläuften durchschlägt und Widerstände überwindet.

    Thorsten Becker musste sich im Lauf seiner Autorenkarriere selbst eine Boxermentalität zulegen. Für sein Debüt "Die Bürgschaft" wurde er Mitte der achtziger Jahre von Marcel Reich-Ranicki enthusiastisch gelobt; seine folgenden Werke waren dem Erwartungsdruck nicht gewachsen. Mehrfach war Becker schon am Boden und wurde ausgezählt: K.O. durch künstlerische Disziplinlosigkeit. Inzwischen hat er sich wieder hochgerappelt und mehrere Werke veröffentlicht, die zumindest Achtungserfolge waren.

    Mit Sieger nach Punkten verfolgt er auch ein moralisches Anliegen. Er wendet sich gegen die "Turkophobie", die er sich als Bewohner von Kreuzberg selbst lange zuschulden kommen ließ - bis er eine Türkin heiratete und das Ressentiment gegen die Türken aus betroffener Perspektive kennenlernte.

    Ich hatte natürlich eine sehr feine Wahrnehmung von Ausländerfeindlichkeit durch meine Frau, weil die überhaupt nicht türkisch aussieht. Und wenn jemand die kennen gelernt hat, dann machte sie vielleicht nach einer Dreiviertelstunde einen grammatischen Fehler. Und vielleicht kommt eine halbe Stunde später noch mal so einer, und dann denkt man: Moment, dieser Mensch ist nicht von hier. Als sie dann gesagt hat, sie ist Türkin, dann war die Reaktion: "Naja, merkt man dir aber kaum an. Also so schlimm ist es nicht." Als hätte sie jetzt eine ganz, ganz ansteckende Krankheit offenbart, an der man innerhalb der nächsten Minuten sterben kann. Ist eine Tatsache mit diesem verbreiteten antitürkischen Ressentiment.

    Um das Ressentiment abzubauen, vertraut Becker auf Geschichtslektionen. Es gibt einen dritten Strang im Roman, nicht weniger als vierhundert Seiten stark, der die Entwicklung des osmanischen Reiches von der Islamisierung im 7. Jahrhundert bis hin zur Gründung der modernen Türkei akribisch nachzeichnet.

    Also das ist nicht reine Koketterie, dass ich dieses Motto von Goethe reingenommen habe: "Die Toleranz kann nur eine vorübergehende Haltung sein, sie muss zur Anerkennung führen." Und diese Anerkennung – so ist es mir ergangen – ist mir sehr viel leichter gefallen durch die Beschäftigung mit der Geschichte. Und das reich ich jetzt einfach so im Maßstab weiter.

    Kenntnis des anderen führt über Verständnis zur Sympathie. So ist das gedacht. Aber hat man sich Becker nun als Verfasser eines milde gesonnenen Romans der deutsch-türkischen Befreundung zu denken? Doch nicht ganz, denn in Sieger nach Punkten geht es auf allen Ebenen um Gewalt. Die Geschichte Nasrettins wartet mit Entführung, Blutrache und Mord auf. Als Lebensmodell für den Berliner Kiez dient dem jugendlichen Helden der Mafia-Film "Der Pate". Das Recht des Stärkeren regiert. Das gilt natürlich erst recht für den historischen Teil des Romans, der auf 1200 Jahre Kriegsgeschichte hinausläuft, von den Schlachten der Kreuzzüge bis zu den Massakern an den Armeniern. Der Boxkampf erscheint vor diesem Hintergrund als verfeinerte, ritualisierte Kulturform der geschichtsbildenden Kräfte des puren Draufhauens.

    Leider wirkt der historische Strang zunehmend wie ein Pflichtpensum, das Schulbuchsprache à la "der kranke Mann am Bosporus" nicht immer vermeidet und vor allem in der zweiten Hälfte unverbunden neben der Nasrettin-Geschichte herläuft.

    Das war urspeünglich noch mehr zusammengebaut. Vielleicht erinnern Sie, dass einmal aus dem Boxkampf heraus der dort boxende Held in einen Zustand visionärer Art verfällt und dann den ganzen Kreuzzug durchlebt mit Einzelheiten usw. Und so war es ursprünglich auch mehr gedacht, dass so mystische Übergänge stattfinden sollten. Im Endeffekt ist es ein bisschen darauf hinausgelaufen, dass ich moderiert habe zwischen den beiden Blöcken, und das hab ich dann zum Schluss auch noch sein gelassen.

    Gewidmet hat Becker das Buch seinem Freund Sentürk Özdemir, dem ehemaligen deutschen Meister im Superfedergewicht, dessen Biographie die Vorlage der Geschichte Nasrettins abgibt. Gemeinsam haben sie ostanatolische Schauplätze aufgesucht. Wenn Becker davon erzählt, bekommt man einen Eindruck von der Entstehungsgeschichte, die wohl selbst den Roman eines Romans ergeben würde:

    Und zwar konnte ich mit dem Boxer, der da für mich Modell gestanden hat bei der Nasrettin-Figur, mit dem Sentürk, in sein Dorf fahren. Das war da nicht so richtig gemütlich, die haben mich zwar eingeladen, ich könnte gerne in ihrem Dorf bleiben, aber ich sah gewisse Entwicklungen voraus... Vor allem diese Handhabung mit dem Alkohol war so, dass erst, wenn alle Frauen in ganzen Dorf im Bett waren, es überhaupt möglich war, die Flasche aufzukriegen – das wurde so vertuscht, weil die so ’ne starke sunnitische Fassade haben in dem Dorf . Und dann dachte ich,– nee, im Moment finden die mich hier noch nett, aber bevor ich hier mit den Heugabeln rausgejagt werde, gehe ich woanders hin. Bin ich zum Schwarzmeer gefahren. Da gabs so einen Tip, für ein anderes Hotel in Ü., das ein Natascha-Hotel war – also Nataschas sind in der Türkei die verarmten sowjetischen Intelligenzlerinnen, die da anschaffen gehen, damit überhaupt noch irgendwas läuft da in ihren vollkommen maroden Wirtschaften in Armenien und Georgien. Diesem Zweck diente das sehr schöne Strandhotel hauptsächlich, und der Chef war dann sehr froh, dass ein Schriftsteller kam, also er hatte so einen richtigen Gast da, den man auch vorzeigen konnte, einen Dauergast, und hat mir dann ein wunderschönes Zimmer zu sehr geringem Preis gegeben. Und da bin ich dann erstmal so die ersten 200 Seiten gewandert... Dann merkte ich aber, mein lieber Herr Gesangsverein, jetzt hast du hier schon zweihundert Seiten voll und bist gerade erst beim ersten Kreuzzug. Wie willst du denn da überhaupt durch die Jahrhunderte kommen? Und du willst ja bis zum ersten Weltkrieg auf jeden Fall...

    An der Situation der Deutschtürken reizt Becker das Thema der Doppelidentität. Aber nicht nur sein Held, auch der Autor selbst hat zwei Seelen in der Brust. Eine feine und eine grobe. Einerseits pflegte Becker lange Zeit das Proll-Image und seinen Ruf als ruppiger, trinkfester Zeitgenosse. Andererseits hat eine Schwäche für Goethes sublime Prosa oder Schillers erhabene Lyrik - Tonfälle, mit denen er seit seinen Anfängen spielt. In "Sieger nach Punkten" macht sich der Einfluss Thomas Manns geltend, dem Becker schon in seinem letzten, komödiantischen Roman "Der Untertan steigt auf den Zauberberg" Reverenz erwies. Wenn nun im Boxring über die Zeit reflektiert wird, sind Zauberberg-Untertöne nicht zu überhören. Noch wichtiger ist Manns Tetralogie Joseph und seine Brüder, die Becker als Ermutigungslektüre bei der langen Arbeit diente und deren augenzwinkernd orientalisierenden Stil er gelegentlich gekonnt imitiert.

    Auch Nasrettin, dem Deutschtürken aus einfachen sozialen Verhältnissen, wird keineswegs ein kabarettartiges "Kanak" in den Mund gelegt. Er spricht immer ein wenig feierlicher und gewählter, als es ihm eigentlich zukommt - als hätte er nicht Boxzeitschriften, sondern Bildungsromane gelesen.

    Da gab es einen Protest übrigens. Da erinnern Sie sich hinten an das Gespräch, wenn wieder die Brautwerbung kommt, wenn der Onkel dem alevitischen Vater die Welt erklärt und umgekehrt – das hatte ich in Izmir mal vorgelesen. Und dann haben mir die Leute gesagt: ‚Die sprechen falsch. Das sind ungebildete Leute, und die sprechen so gebildet. Was soll das? Das stimmt ja nicht.’ Also man fühlt sich hier in seinem Realismus-Gefühl verletzt. Ich hab aber auch diesen Realismus ja nicht angestrebt.

    Eher schwach ausgeprägt ist die Psychologie des Romans. Entscheidende Wendungen sind kaum motiviert: etwa Nasrettins Wandel vom Jung-Kriminellen zum Profi-Sportler oder das Scheitern seiner ersten großen Liebe. Fabulierfreudig überlässt sich Becker dem Fluss des Geschehens und springt beherzt von Episode zu Episode; die zwischenmenschlichen Resultate interessieren ihn so wenig wie die Innenwelten. Die pure Freude am Geschichtenerzählen und der Humor tragen seine Werke, und mit seiner guten Erzähllaune schafft er es, dass man mit seinem Helden Nasrettin lacht und sich über einen gelungenen Coup freut. Vom verkniffenen Eindruck, den deutsche Gegenwartsliteratur oft macht, ist hier nichts zu spüren.

    Thorsten Becker
    Sieger nach Punkten
    Rowohlt Verlag, 928 S., EUR 29,90