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Tundra im Fieber

Umwelt. - Kaum eine Region in der Welt leidet so sehr unter der Klimaerwärmung wie die Arktis. Ihren aktuellen Zustand sowie die weitere Entwicklung und Folgen erörtern derzeit Experten auf der Tagung "Arctic Summit Science Week" in Potsdam.

Von Michael Fuhs | 27.03.2006
    Juli 2005 in Nordwestsibirien. Über die flache Landschaft ziehen sieben Nenet-Familien zusammen mit etwa 7000 Rentieren. Keine Bäume weit und breit, nur niedrige Gräser und Zwergsträucher. Sie haben es eilig, denn in diesem Jahr ist es wärmer als sonst und das Eis auf dem Seyakha Fluss ist schon aufgebrochen. Ziel sind die einige hundert Kilometer entfernten Sommerweiden, erzählt Bruce Forbes auf der Konferenz "Arctic Summit Science Week" in Potsdam. Der Ökologe vom Arktis-Zentrum der Lappland-Universität hat die Nomaden durch die Tundra begleitet. Das ist eine der Regionen, die am meisten von der Klimaerwärmung betroffen ist.

    "Menschen, die fischen, die jagen oder Herden halten, machen das seit Jahrhunderten Jahr für Jahr in den gleichen Gebieten. Sie entwickeln ein Wissen über diese Landschaft und verstehen, wie sie funktioniert. Sie haben bemerkt, dass Flüsse später zufrieren, dass das Eis nicht so dick wird und im Frühjahr früher schmilzt. Einige Seen sind verschwunden und es scheint so, dass die Büsche größer werden."

    Der Boden in der Tundra ist ab einer gewissen Tiefe fast immer gefroren. Durch diesen gefrorenen Permafrost-Boden fließt das Regenwasser nicht ab. Dadurch bildeten sich die Seen. Die Nenets sind darauf angewiesen, denn sie brauchen die Fische.

    "Der Permafrost ist in dieser Gegend relativ warm, um die Null Grad Celsius. Wenn der Permafrost zurück geht, dann kommt das Wasser zum Beispiel mit Kiesschichten in Kontakt und wird nicht mehr von gefrorenem Schlamm gehalten. Dann kann der See schnell versickern."

    Schon etwa jeder zehnte See in der Tundra ist in den letzten 20 Jahren verschwunden. Die andere Beobachtung der Nenets, dass die Büsche größer werden, bestätigen die Wissenschaftler auch. Seit etwa 15 Jahren simulieren Forscher in zahlreichen Versuchstationen in der Tundra, was geschieht, wenn es wärmer wird. Greg Henry ist einer von ihnen. Der Biogeograph an der Universität von Britisch Columbia in Vancouver war überrascht. Größere Büsche breiten sich viel schneller aus als gedacht. Das betrifft nicht nur die Regionen am Polarkreis, sondern auch Mitteleuropa. Denn die große Frage ist, ob durch auftauenden Permafrost und mehr Vegetation in der Tundra der Klimawandel gebremst oder beschleunigt wird. Greg Henry:

    "Allein dadurch, dass man dunklere Blätter hat, die aus dem Schnee herausschauen, das ändert die Farbe der Oberfläche, die Reflektivität, so dass mehr Sonnenstrahlung durch die größere Zahl der Blätter absorbiert wird. Und das kann die Atmosphäre noch mehr erwärmen. Für das nächste Jahrhundert wird vorausgesagt, dass große Flächen der Tundra mit Büschen und Bäumen bedeckt sein werden. Einige Wissenschaftler haben ausgerechnet, dass das den gleichen Effekt haben könnte wie eine weitere Verdopplung des Kohlendioxidgehalts."

    Die Erde würde sich also noch mehr aufheizen als gedacht. Andererseits binden die Planzen in ihren Stängeln und Blättern das Treibhausgas Kohlendioxid. Das könnte die Erwärmung bremsen. Noch wissen die Klimaforscher nicht, welcher Effekt die Oberhand gewinnt. Derweil müssen die Menschen in der Tundra mit den Veränderungen zurecht kommen. Bruce Forbes:

    "Die Menschen sind zuversichtlich. Das Klima in der Arktis war während der letzten 1000 Jahre immer instabil. Die Menschen sind Veränderungen gewohnt. Neu ist, dass sich das Klima sehr schnell ändert, aber auch die Veränderung in der Landnutzung."

    Drastische Eingriffe sind durch die Ölindustrie zu erwarten. Denn aus der Gegend, wo die Nenets leben, kommt russisches Erdgas und Erdöl nach Europa. Das führt dazu, dass die Städte wachsen und Wege unpassierbar werden. Dadurch haben die Nenets immer weniger Möglichkeiten, auf den Klimawandel zu reagieren.