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Ingo Schulze: "Tasso im Irrenhaus"
Im Spiegelkabinett der Blicke

Drei Erzählungen, drei Kunstwerke. Ingo Schulze erzählt in „Tasso im Irrenhaus“ davon, dass die Begegnung mit Kunst voller Überraschungen steckt und dass am Ende ganz andere Einsichten dabei herausspringen, als der erste Blick erwarten ließ.

Von Jörg Magenau | 07.07.2021
Portrait des Schriftstellers Ingo Schulze und das Cover seines Romans "Tasso im Irrenhaus"
In Ingo Schulzes Auseinandersetzung mit Kunstwerken geht es auch um das Verhältnis von Kunst und Literatur. Denn der Autor selbst tritt in diesen Geschichten als Ich-Erzähler auf. (Cover dtv / Autorenportrait: picture alliance/dpa / Annette Riedl)
"Tasso im Irrenhaus" ist ein berühmtes Gemälde von Eugène Delacroix. Es zeigt den wegen Wahnsinns eingesperrten italienischen Renaissance-Dichter Torquato Tasso, der durch die Gitterstäbe der Zelle hindurch von Schaulustigen begafft wird. Ingo Schulze gleichnamiger Erzähungsband versammelt drei Texte über Kunst, die vom Sehen handeln, vom genauen Wahrnehmen der Details und davon, wie sich von diesem Wahrnehmen erzählen lässt. Dem Ich-Erzähler der Titelgeschichte fällt zum Beispiel die merkwürdige Beinhaltung von Delacroixs Tasso auf.

"Nicht nur der über dem Oberschenkel liegende Mantel macht den Eindruck, als fesselte er das rechte Bein. Der Vorhang, der das Bild in eine Fenster- und eine Tassohälfte teilt, berührt den Dichter nicht. Trotzdem scheint er mit seinem ganzen Gewicht auf ihm zu lasten, ja sich regelrecht auf ihn zu ergießen, als wäre es der sichtbare Ausdruck eines Albs, der Tasso die Seele beschwert. Die Gegenbewegung dazu vollführt sein linkes Bein, rätselhaft in ihrem Sinn und Zweck. […] Ganz gleich, was die Intention hinter Tassos Bewegung sein soll, mit ihr verliert er, und sei es nur für einen Augenblick, den Boden unter den Füßen."

Umgekehrte Blickrichtung

Auch Schulzes Ich-Erzähler verliert immer wieder den Boden unter den Füßen. Seine Kunst-Annäherungen verlaufen ganz anders als geplant – egal ob er einen Katalogtext über den Konzeptkünstler Reinhard Mucha und seine Großinstallation "Das Deutschlandgerät" schreiben will, ob er einen Essay über den Maler Johannes Grützke in Angriff nimmt, oder, wie im Falle von Delacroix, im Museum von einem Besserwisser bedrängt wird. Stets handelt es sich um Spiegelverhältnisse, in denen Schulze in der Auseinandersetzung mit der Kunst zugleich die Rolle der Literatur und des eigenen Schreibens beleuchtet. So wie Delacroix einen Dichter gemalt hat, rückt Schulze nun Maler ins Zentrum seiner literarischen Betrachtungen und kehrt damit die Blickrichtung um.
Der Ich-Erzähler aller drei Geschichten ist ein Schriftsteller aus dem deutschen Osten. In einem Fall heißt er sogar Ingo Schulze. Trotzdem sollte man Erzählerfigur und Autor nicht miteinander verwechseln. Der fiktive Schulze ist eine Projektionsfläche für den realen; Spiegelverhältnisse also auch hier. Das literarische Alter Ego ist vor allem ein bisschen ahnungsloser als Schulze selbst. Stets muss sich dieser Erzähler von anderen belehren lassen, die viel mehr über das jeweilige Kunstwerk wissen. In diesem Setting steckt bereits eine wichtige Einsicht: Es gibt keine vorgefertigten Wahrheiten, die aus der Kunst herauszulesen wären, sondern Begegnungen, Bewegungen, unterschiedliche Sichtweisen, die im Gespräch, in der Auseinandersetzung deutlich werden.

Die Wahrheit der Symbole

Mustergültig führt Schulze diesen Prozess in der dritten und besten Erzählung "Die Vorlesung" vor, wo er den Maler Johannes Grützke kurz vor dessen Tod im Hospiz besucht. Er trifft ihn dort umgeben von Freunden und Verwandten, so dass es nicht zum erhofften Interview, sondern zu einem ihm eher peinlichen Gruppengerede über Kunst kommt. Grützke genießt das jedoch, und schließlich ist es der sterbende, immer noch lebenslustige Maler, der, aus dem Schlummer erwachend, die entscheidenden Sätze spricht:
"'Unser Aufgehobensein in der Zeit', sagte der Maler Grützke mit leuchtenden Augen, 'ist wohl spürbar für Aufmerksamere, ist aber nicht das Ziel der Malerei. […] Die Malerei stellt dar, woraus politisches Geschehen besteht, und zwar in mehr oder weniger starken Symbolen. Diese haben ihre Wahrheit, wenn sie interessieren. Es gibt jede Menge Versuche zu kraftvollen, wahrhaftigen Symbolen, nur wenige schaffen es, tatsächlich wahr zu sein. Naja, man kann Wahrheit nicht wollen; die Wahrheit erweist sich, meist zur eigenen Überraschung, später erst."

Der überraschte Künstler

Nicht nur diese Sätze über Kunst lassen sich umstandslos auf die Literatur von Ingo Schulze übertragen. Seit seinem Debüt vor mehr als 25 Jahren versucht er, vor allem die Stimmungen im Osten des Landes einzufangen und Figuren zu schaffen, die für das Aufgehobensein im historischen Prozess der Wende und Nachwendezeit ebenso stehen, wie sie das zeitlos Menschliche repräsentieren. So eine Figur ist in der ersten der drei Geschichten der fiktive dissidentische Autor B.C., der die DDR verlassen musste, im Westen aber nie heimisch werden konnte. Dieser B.C., der ein wenig an Wolfgang Hilbig erinnert, macht den Ich-Erzähler mit Reinhard Muchas monströsem, aus Kabeln, Fußschemeln, Vitrinen, Lautsprechern und dem Atelierfußboden des Künstlers konstruierten "Deutschlandgerät" bekannt. B.C. erkennt darin seine eigene Unzugehörigkeit zum vereinigten Deutschland wieder. Aus dem Katalogtext, den der Ich-Erzähler über Mucha schreiben soll, wird ein langer Brief an eine Museumsdirektorin, der von seiner Begegnung mit B.C. handelt und von dessen Leben als Sonderling am Rand der Gesellschaft und des Literaturbetriebs.
Einmal mehr erweist sich Ingo Schulze mit diesen zwischen 2010 und 2016 entstandenen und für diesen Band überarbeiteten Kunst-Stücken als planvoller Erzähler, der genau weiß, was er tut. Vielleicht ist die Absicht manchmal ein bisschen zu offensichtlich, die Zielrichtung zu deutlich festgelegt. Und doch bleiben in diesen Annäherungen an Kunst genug Überraschungsmomente, um der Einsicht des Malers Johannes Grützke zu folgen, wonach sich die Wahrheit auch für den Künstler selbst stets überraschend einstellt. Schulze lässt uns an diesem aufregenden Prozess erzählerisch teilhaben. Viel mehr kann ein Buch über Kunst nicht leisten.
Ingo Schulze: "Tasso im Irrenhaus"
dtv, München, 160 Seiten, 20 Euro