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Tunesien
Die problematische Rücknahme von Gefährdern

Der Attentäter von Berlin kam aus Tunesien und sollte auch wieder in sein Heimatland abgeschoben werden. Seitdem sieht sich Tunesien dem Vorwurf ausgesetzt, radikalisierte Landsleute nicht zurücknehmen zu wollen. Die Regierung bestreitet das. Doch die Rücknahme von Gefährdern ist nicht nur in Tunesien ein großes Problem.

Von Jens Borchers | 12.01.2017
    Polizisten stehen in einer Straße und bewachen die Umgebung.
    Auch in Tunesien herrscht die Angst vor neuen Terroranschlägen. Bisher kehrten hunderte radikalisierte Tunesier in ihr Heimatland zurück. (Mohamed Messara, picture alliance / dpa)
    Wenn Tunesier und Deutsche direkt miteinander sprechen würden, gäbe es wohl in einem Punkt Übereinstimmung: In beiden Ländern grassiert die Furcht vor neuen Terroranschlägen. Und vor Radikalen und Fanatikern im eigenen Land. Tunesien hat schwere Attentate erlebt. Auf Touristen. Auf die Garde des Präsidenten. Sogar auf eine ganze Stadt an der Grenze zu Libyen. Die Täter waren Tunesier. Tunesier, die sich – aus welchen Gründen auch immer – Terror-Organisationen wie dem Islamischen Staat oder Al Kaida angeschlossen hatten.
    Tunesien Regierung sagt, sie habe eine Liste mit mehr als 2.900 Namen von Tunesiern, die nach Syrien, Irak oder Libyen gegangen sind, um dort im sogenannten Dschihad zu kämpfen. Bisher sind etwa 800 dieser radikalisierten jungen Männer wieder nach Tunesien zurückgekehrt. Sie wurden teils ins Gefängnis gesteckt, teils unter Hausarrest gestellt. Mittlerweile protestieren in Tunesien Menschen dagegen, dass diese Radikalen überhaupt heimkehren können. Eine Demonstrantin sagt, warum sie dieser Ansicht ist:
    "Das sind Leute, die Tunesien auf illegalem Wege verlassen und sich dem Islamischen Staat oder Al Kaida angeschlossen haben. Das sind keine Tunesier mehr."
    Warum der Berlin-Attentäter nicht abgeschoben wurde
    Und deshalb, meint die Demonstrantin, sollen sie auch nicht mehr als tunesische Staatsbürger heimkehren dürfen. Juristisch ist das unmöglich. Aber es zeigt die Furcht mancher Menschen in Tunesien. Aus dieser Angst heraus argumentieren viele: Weg mit den Radikalen, haltet sie uns vom Leib, sperrt sie weg oder macht sonst was mit ihnen.
    Das Attentat in Berlin, verübt von einem Tunesier, ist aufmerksam registriert worden. Es hat viele Menschen berührt und erschüttert. Ihnen ist peinlich, dass der Täter aus Tunesien kam. In Deutschland wird diskutiert, warum er nicht – wie eigentlich geplant – längst in sein Heimatland abgeschoben worden war. Die zuständigen Stellen in Deutschland rechtfertigen sich mit der Begründung: Tunesien hat nicht rechtzeitig anerkannt, dass der Mann Tunesier war.
    Die tunesische Regierung wehrt sich: Man habe widersprüchliche Angaben aus Deutschland bekommen. Deshalb sei die Identität zunächst nicht eindeutig festzustellen gewesen, das sagte der Staatssekretär für Migration und Auslandstunesier dem tunesischen Radiosender Mosaique FM:
    "Bei einer zweiten Anfrage mit dem richtigen Namen vom 17. Dezember konnten wir seine Identität bestätigen und haben am 19. Dezember die Rückführung nach Tunesien akzeptiert."
    Vorwurf an Tunesien, radikalisierte Landsleute nicht zurückzunehmen
    Der 19. Dezember – an diesem Tag verübte Anis Amri mit einem gestohlenen Lastwagen den Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt. Seitdem sieht sich Tunesien dem pauschalen Vorwurf ausgesetzt, radikalisierte Landsleute einfach nicht zurücknehmen zu wollen. Die Regierung bestreitet das. Im Tunesischen Parlament zeigen sich Abgeordnete verschiedener Fraktionen mehr oder weniger hilflos. Was tun mit den Radikalen? Zaid Lakhdar von der Partei Front Populaire sagt:
    "Der tunesische Staat ist auf dieses Problem nicht vorbereitet. Innerhalb der Regierung gibt es Widersprüche: Manche wollen die Terroristen nicht zurücknehmen. Andere sagen, wir müssen sie wieder zu uns rein lassen. Diese Widersprüche sind ungelöst."
    Mehrezia Laabidi von der gemäßigt islamistischen Partei Ennahda sagt, sie verstehe die Angst vieler Menschen vor der Rückkehr radikalisierter junger Männer. "Ich verstehe, dass sie sagen, wir wollen die nicht bei uns haben", meint Laabidi. Aber das sei keine Lösung. Die zentrale Frage sei:
    "Wie verfährt man mit ihnen? Wie erfahren wir, was sie getan haben, wessen sie schuldig sind? Welches juristische Arsenal haben wir, um sie zu richten?"
    Tunesiens Problem mit den Gefährdern
    Das heißt: Woher sollen Beweise für mögliche Straftaten kommen? Wie kann man Radikale überwachen? Was kann man tun, um sie möglicherweise wieder zu integrieren? Die Antwort einiger tunesischer Parlamentarier lautet: Diese Fragen müssen wir zusammen lösen, gemeinsam mit Ländern wie Deutschland.
    Die deutsche Debatte über eventuelle Kürzungen von Entwicklungshilfe, um Druck zu machen für schnellere Abschiebungen – die ist noch gar nicht richtig angekommen in Tunesien. Aber Tunesien hat ein ähnliches Problem wie Deutschland: Was tun mit den "Gefährdern"?