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Tunesien
"Freiheit haben wir jetzt, aber wir hungern"

Zum siebten Jahrestag der Revolution macht Tunesien keinen guten Eindruck: In mehreren Städten protestierten die Menschen gegen die Sparpolitik der Regierung und die Erhöhung der Mehrwertsteuer. Die Hoffnung auf Reformen und wirtschaftliche Entwicklung hat sich bislang nicht erfüllt.

Von Jens Borchers | 13.01.2018
    Demonstranten in Tunesiens Hauptstadt Tunis protestieren gegen Preisanstiege und die Sparpolitik
    Demonstranten in Tunesiens Hauptstadt Tunis protestieren gegen Preisanstiege und die Sparpolitik (AFP/ Fethi Belaid)
    Walid Bejaoui ist arbeitslos. Er lebt in Terbouba, einer Trabantenstadt vor den Toren von Tunis. Walid bringt die Probleme für sich auf einen sehr schlichten Punkt:
    "Wir haben die Revolution gemacht, um Arbeit, Freiheit und Würde zu erreichen. Freiheit haben wir jetzt. Aber wir hungern."
    Tunesiens Arbeitslosenquote liegt offiziell bei 15 Prozent. Das ist viel. Die Preissteigerungsrate für das vergangene Jahr 2017 wird auf mehr als sechs Prozent geschätzt – auch das ist viel. Manche meinen, sie liege eigentlich noch höher. Und seit dem 1. Januar nun wurde die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt angehoben und die Regierung will einen Sparhaushalt verabschieden. Dagegen wiederum protestieren Menschen überall im Land. Am Freitagnachmittag folgten in der Hauptstadt Tunis allerdings nur wenige dem Aufruf zu weiteren Demonstrationen.
    "Eine Regierung von Dieben"
    Es gießt wie aus Eimern, die Polizei ist sehr präsent im Stadtzentrum. Sie wollen der Regierung die "gelbe Karte" zeigen, sagt die Sprecherin einer Organisation, die mit zu den Protesten aufgerufen hat. Die Regierenden sollen verstehen, dass sich jetzt um die wirklichen Probleme des Landes kümmern müssten. Die beschreibt Hammadi, ein Student, so:
    "Ich komme heute für die Jungs aus meinem Viertel, meine Mutter und meinen Vater, für alle Armen und Zurückgelassenen: Die Revolution ist jetzt sieben Jahre her und nichts hat sich erfüllt. Unsere Regierung ist eine Mafia, eine Regierung von Dieben. Die, die im Parlament sitzen, sind alles Kapitalisten, und sie verteidigen die Kapitalisten. Die Armen verteidigt niemand."
    Der Pessimismus ist in Tunesien nicht erst seit Beginn dieser Proteste zu spüren. Er scheint immer weiter um sich zu greifen: Die Menschen nehmen keinen Fortschritt wahr, sie sprechen häufig davon, dass sich die Lage immer weiter verschlechtere.
    Proteste in Tunesien
    Bei den Protesten in Tunesien kam es auch zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Die Behörden sprachen von Gewalttätigkeiten und Plünderungen. (Anis Ben Ali/AP)
    "Besserer Zustand" am Ende des Jahres?
    Tunesiens Präsident, der 92-jährige Beji Caid Essebsi, versucht immer mal wieder, das Positive hervorzuheben:
    "Hoffentlich wird bis Ende 2018 das finanzielle Gleichgewicht wiederhergestellt. Die Regierung wird ihre Politik der Bekämpfung der Korruption und des Terrors aller Extreme fortsetzen. Dann werden wir uns hoffentlich Ende des Jahres in einem besseren Zustand befinden."
    Wie genau dieser "bessere Zustand" erreicht werden soll, das bleibt offen. Schon lange spricht die Regierung von Reformen: In der Verwaltung, im Gesundheitssystem oder im Bereich von Schule und Ausbildung. Aber es geschieht nichts Durchgreifendes.
    Kritik kommt von der Straße, Kritik kommt auch von Nichtregierungsorganisationen wie International Alert Tunisia. Die Politologin Olfa Lamloum führt diesen Verband. Sie kann die Proteste der Menschen gegen das neue Finanzgesetz und die Steuererhöhungen nachvollziehen:
    "Worauf basiert diese neue Sparpolitik: Im öffentlichen Dienst wird niemand mehr eingestellt. Die Mehrwertsteuer wird angehoben, das heißt da wird eine indirekte Steuer erhöht, die ungerecht ist, weil sie vor allen sozial schwache Familien trifft."
    Tunesiens Präsident Béji Caïd Essebsi während eines Staatsempfangs in der Hauptstadt Tunis. Sitzend im Sessel neben einer Staatsflagge.
    Tunesiens Präsident Béji Caïd Essebsi (Eric Lalmand, dpa picture-alliance)
    Der Staat will sparen, das nehmen ihm die Bürger übel
    Das mag sein, verschweigt allerdings, dass die Regierung auch sehr gezielt Steuern auf Luxusgüter angehoben hat. Premierminister Youssef Chahed will die Einnahmesituation des Staates verbessern.
    Das Problem scheint allerdings eher die Ausgabenseite zu sein: Mehr als die Hälfte des Staatshaushaltes geht für die Löhne und Gehälter von über 700.000 Angestellten des Öffentlichen Dienstes drauf. Die Verschuldung ist in den vergangenen zwei Jahren enorm gestiegen, sie liegt jetzt bei über 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
    Deshalb will der Staat sparen und das nehmen viele Bürger übel. Sie schimpfen über Korruption und Vetternwirtschaft. Und sie wollen sich keine Belehrungen von der Regierung anhören, sie sollten sich bitteschön mal einschränken oder selbst aktiver sein. Kmar Bendana, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität La Manouba in Tunis meint, das bringt die Menschen auf die Straße:
    "Die Korruption zerfrisst das Land und das Vertrauen der Menschen. Jedes Mal, wenn ein Minister um Geduld bittet, die Leute auffordert, zu arbeiten oder selbst etwas zu unternehmen – wie soll das gehen, wenn die Leute sehen, wie sich die Korruption verbreitet?"
    Diese Woche protestierten die Menschen an vielen verschiedenen Orten Tunesiens. Nach Feiern ist ihnen zum siebten Jahrestag der Vertreibung des Diktators Ben Ali kaum zumute.