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Alejandro Zambra: "Multiple Choice"
Literatur zum Ankreuzen

"Multiple Choice" ist in der Form eines Intelligenztests geschrieben: Der chilenische Autor Alejandro Zambra stellt darin Fragen und gibt dem Leser jeweils unterschiedliche Antworten vor. Stilistisch originell, ist sein Roman inhaltlich eine Auseinandersetzung mit der Pinochet-Diktatur in Chile.

Von Dirk Fuhrig | 11.12.2018
    Buchcover: Alejandro Zambra: „Multiple Choice“
    "Multiple Choice" ist ein Gesellschaftsroman im Gewand eines Intelligenztests (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: Stock.XCHNG / Hannah Boettcher)
    Literatur zum Ankreuzen: Alejandro Zambra hat sich als Bauplan für seinen Roman den Eignungstest genommen, den Anwärter für ein Studium in Chile bestehen mussten. Der Multiple-Choice-Test mit 90 Fragen wurde zwischen Ende der 1960er- und Mitte der 90er-Jahre verwendet. Ein Intelligenztest, der zuerst logische Fähigkeiten abprüft, bevor er immer komplexeres Verständnis testet. Und so beginnt Zambras Buch mit einer Aufgabe, in der Begriffsfelder erschlossen werden, etwa:
    "Unterrichten"
    Die Frage lautet: Welches der folgenden Wörter lässt sich nicht unter diesen Oberbegriff fassen?
    "Ausrichten
    Nachrichten
    Zurichten
    Abrichten
    Hinrichten"
    Die ersten Seiten durchblättert man etwas ratlos, denn sie bestehen aus lauter solchen a, b, c, d, e-Listen - grafisch-sprachspielerisch, denkt man sich. Schön und gut, aber was soll’s? Und ist das nicht eher ein Gedicht als ein Roman? Aber dann stolpert man über dieses "Abrichten" und dieses "Hinrichten". Gleich danach gibt Zambra zum Oberbegriff "Beschützen" die Antwortmöglichkeit "Bespitzeln" vor. Und Frage 24 lautet:
    "Schweigen"
    Dazu fünfmal dieselbe Antwort:
    "a) Schweigen
    b) Schweigen
    c) Schweigen
    d) Schweigen
    e) Schweigen"
    Schweigen als Bürgerpflicht
    "Schweigen", so darf man nun getrost assoziieren, das ist die erste Bürgerpflicht in der Diktatur. Denn in Frage 36, unter dem Oberbegriff "Narben", taucht der Name "General Pinochet" auf. Aber es dauert noch weitere mehr als 20 Fragen, bis sich dem Leser der historisch-politische Rahmen dieses "Intelligenztests" ganz eröffnet:
    "Die Ausgangssperre bezeichnet das Verbot, sich frei auf den Straßen eines bestimmten Gebiets zu bewegen. Sie wird gewöhnlich im Krieg oder bei Volksaufständen ausgerufen. In Chile verhängte sie die Diktatur vom 11. September 1973 bis zum 2. Januar 1987."
    "Multiple Choice", so stellt sich Seite um Seite immer deutlicher heraus, ist ein experimenteller Text über die blutigste Epoche in der Geschichte Chiles. Eine Zeit, in der Menschen verschwanden, gequält, getötet oder ins Exil gezwungen wurden.
    "Jetzt behauptet mancher, er hätte nichts gewusst von den Verschwundenen, von den Folterungen, den Ermordungen. Natürlich haben sie Bescheid gewusst. Er hat es gewusst, ich auch, wir alle."
    Lügen, Verschweigen, Denunziation
    Geheimnis, Lügen, Verschweigen, Denunziation - all das verpackt Alejandro Zambra in die Form dieser Prüfung, die an sich bereits eine Form der Gleichschaltung ist. Denn beim Multiple Choice gibt es ja keine anderen Antworten als die vorgegebenen. Wer erfolgreich bestehen will, muss sich "systemkonform" verhalten, sich in die Logik des Systems hineinbegeben, nicht aufbegehren gegen die Autorität. Und so geht es auch um Väter und Söhne, um die Verantwortung der Generationen, etwa am Beispiel des brutalen Geheimdienstchefs in jener finsteren Epoche.
    "Man fragt mich nach meinem Namen, und ich antworte: Manuel Contreras. Man fragt, ob ich Manuel Contreras bin. Ich bejahe. Man fragt mich, ob ich der Sohn von Manuel Contreras bin. Ich antworte, ich bin Manuel Contreras… Einmal habe ich das Telefonbuch genommen und die Seite herausgerissen, auf der mein Name stand, unser Name. Es gab zweiundzwanzig Manuel Contreras in Santiago."
    Die Geschichte bleibt omnipräsent in der Gegenwart. Für Alejandro Zambra, der 1975, also zwei Jahre nach dem Militärputsch, in Santiago de Chile geboren wurde, ist die Beschäftigung mit den Nachwirkungen der Diktatur essentiell. Aber Zambra ist auch ein sehr formbewusster Schriftsteller, der sich wie ein Lyriker in den Klang und die Verästelungen der Sprache vertieft. Das hat bei seinem erfolgreichen Erstling "Bonsai" - 2006 im Original, aber erst 2015 auf Deutsch erschienen - dazu geführt, dass in der Rezeption, jedenfalls in Europa, die gesellschaftliche Relevanz seiner Literatur oft übersehen wurde. Zambras "Multiple Choice" gibt keine eindeutigen Antworten, schon gar keine ernsten. Viel Selbst-Ironie ist im Spiel, viel humoristischer Hintersinn:
    "88. Frage: Was wäre Deiner Ansicht nach der richtige Mailordner für einen solchen Text?
    a) Gesendet
    b) Entwürfe
    c) Posteingang
    d) Spam
    e) Nicht gesendet"
    Alejandro Zambra verführt den Leser zu einem literarischen Spiel, wie es in der zeitgenössischen Literatur selten ist. Mit seiner Technik reiht er sich ein in die Tradition der "Exercices de style" eines Raymond Queneau. Die Oulipo-Bewegung, Georges Perec scheinen hier Pate gestanden zu haben. Und ganz offensichtlich auch der Wiener Sprachakrobat Ernst Jandl:
    "84. Frage: Ein mehr oder weniger guter Titel für den gelesenen Text wäre:
    ,My generation' (The Who)
    ,Generación de mierda' (Los Prisioneros)
    ,Ottos Mops kotzt' (Ernst Jandl)"
    "Multiple Choice" ist ein subtiles, anspielungsreiches Sprach-Gebilde voller Esprit. Ein vielschichtiger Gesellschafts-Roman im glänzenden Umhang eines Gedichts. Und sei es eine Art DADA-Gedicht. Auf jeden Fall ein anregendes, ein großartiges Buch.
    "89. Frage: Nach der Lektüre dieses Textes wäre es dir lieber:
    Ihn nicht gelesen zu haben.
    Keine Kinder zu haben.
    Viele Kinder zu haben.
    Keinen Vater zu haben.
    Einen Papagei zu haben."
    Alejandro Zambra: "Multiple Choice"
    Aus dem Spanischen von Susanne Lange
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 109 Seiten, 18 Euro.