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Tunesien
Weder Touristen noch Fabriken

Tunesien gilt als das Land, in dem der "Arabische Frühling" erfolgreich war. Doch die Wirtschaft lahmt und inzwischen regt sich Protest gegen Vernachlässigung und Unterentwicklung auch in den noch ganz gut versorgten Küstenstreifen.

Von Anne Françoise Weber | 18.03.2017
    Strandleben in Hammamet, Tunesien.
    An der Ostküste Tunesiens, hier in Hammamet, können längst nicht alle Orte von den Touristen leben. (picture alliance / Friedel Gierth)
    In dem kleinen Ort Bradaa an der Ostküste Tunesiens herrscht große Aufregung. Auch wenn sie schon lange Grund zum Klagen haben - erst Mitte Februar haben sich die Einwohner wirklich zusammen getan und Forderungen formuliert. Ezzedine Abdel Aziz trägt sie vor:
    "Wir wollen unseren Anteil an der Entwicklung, die dem Gouvernorat Mehdia zusteht. Zuallererst fordern wir eine eigene Stadtverwaltung, die sich um unsere sozialen und wirtschaftlichen Belange kümmert. Wir sind hier als touristische Zone eingestuft. Aber hier gibt es keine Touristen – dennoch dürfen wir keine Fabriken und keine Werkstätten ansiedeln. Deswegen wollen wir, dass unsere Region in eine Industriezone umgewandelt wird. Das sind unsere Forderungen."
    Tatsächlich hat Bradaa keinerlei touristische Infrastruktur – der Strand liegt fünf Kilometer entfernt, die nächsten großen Hotels befinden sich im rund 30 km entfernten Küstenort Mehdia. Und der Ort hängt bislang administrativ vom benachbarten Ksour Essef ab – dort gibt es eine Stadtverwaltung, die sich aber um die Belange der Menschen in Bradaa nicht zu kümmern scheint.
    "Wir haben nichts getan und sie haben uns geschlagen"
    Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, hatten die Einwohner Mitte Februar zunächst die Zufahrtswege zu ihrem Ort mit einem friedlichen Sit-in gesperrt. Die Gegenreaktion der Polizei war sehr heftig:
    "Sie kamen um sechs Uhr morgens in die Zelte, haben uns bedroht, ein paar Männer herausgeholt und geschlagen. Wir haben eine Demonstration organisiert, mit den Frauen und Kindern vorne, um zu zeigen, dass wir friedlich sind. Und trotzdem haben sie uns mit Tränengas beschossen. Wir sind nicht zurück gewichen, und sie haben uns weiter beschossen."
    Empört bringen die Männer die Tränengaspatronen als Beweis und schieben einen jungen Mann nach vorn, der einen Verband am Ellbogen trägt. Er kann sich gar nicht beruhigen: "Wir haben nichts getan und sie haben uns geschlagen. Alle diese Polizisten sind Hunde!"
    Die Journalistin stellt eine Rückkehr zur Polizeigewalt fest
    Wegen der Verletzung durch Polizisten Anzeige zu erstatten, hält er für völlig aussichtslos. Dennoch sei es sinnvoll, alle Verletzungen genau aufzulisten und zu dokumentieren, erklärt die Journalistin Henda Chennaoui den Männern von Bradaa. Sie hat über Facebook von den Protesten erfahren und ist in den Ort gekommen, um für die linke Onlineplattform Nawaat zu berichten. Für Chennaoui sind die Vorfälle hier alles andere als ein Einzelfall:
    "Seit 2013 gibt es eine Rückkehr zur Polizeigewalt angesichts von sozialen Bewegungen und Protesten. Außerdem gibt es die Tendenz zur Kriminalisierung. Jedes Mal, wenn die Bürger auf die Straße gehen, um ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte einzufordern, behandelt man sie wie Verbrecher und macht ihnen einen Prozess wegen Widerstands oder Gewalt auf Grundlage von Gesetzen, die aus der französischen Kolonialzeit stammen und die das kriminalisieren, was wir heute Soziale Bewegungen nennen."
    Mindestens 275 Aktivisten aus sozialen Bewegungen befänden sich zur Zeit in Haft oder seien angeklagt, berichtet Chennaoui – und das seien nur diejenigen, über die Medien, Menschenrechtsorganisationen und Anwälte berichtet hätten, die Dunkelziffer sei sicher hoch.
    Im Fall von Bradaa scheinen die Proteste Erfolg gehabt zu haben
    Doch im Fall von Bradaa scheinen die Proteste Erfolg gehabt zu haben: Keine zwei Wochen danach ist eine eigene Stadtverwaltung versprochen und eine Summe von über 1,2 Millionen Euro für Infrastrukturmaßnahmen zugesagt. Zu tun gibt es viel: die Krankenstation, in der nur alle zwei Tage ein Arzt arbeitet, ist völlig unzureichend für die rund 15.000 Einwohner. Sie wünschen sich neben der Ansiedlung von Industrie Kindergärten, Spielplätze, ein Kulturzentrum – und Straßen ohne Schlaglöcher. Auch die Schulen sind in desolatem Zustand, wie der Besuch einer Grundschule im Ort zeigt.
    Eltern und Lehrer haben hier bereits einen Streik organisiert, denn die Zustände sind unhaltbar – der Putz bröckelt von den Wänden, die Toiletten sind meist überschwemmt, einige Gebäudeteile scheinen einsturzgefährdet. Wie sollen Kinder da vernünftig lernen? Vielleicht könnte eine neue Stadtverwaltung bei manchem Abhilfe schaffen. Doch mindestens ein Problem der Lehrerin Hoda El-Atrash lässt sich wohl auf lokaler Ebene so schnell nicht lösen:
    "Der Lehrplan sieht für die ersten zwei Klassen eine praktische Einführung in Computer und Internet vor. Da heißt es: Nenne die Vorteile des Computers. Wie soll man darüber reden? Die Schüler haben weder Tablet noch Computer. Wir sind da in einer Welt der Illusionen und Träume, weit weg von der Realität. Dieser Lehrplan passt überhaupt nicht für die Schüler."